24 STUNDEN IN LE HAVRE
Gleich fahre ich wieder: So war mittags beinah mein Fazit. Der Zwischenstopp in der Hafenstadt an der Seine-Mündung begann entmutigend: der Wetterbericht hatte für Mitte Juni anderes angekündigt, aber es war kalt, wolkenverhangen, regnerisch und windig, ich war viel zu sommerlich angezogen und fror. Im unwirtlichen Grau in Grau schienen sich die Pluspunkte von Le Havre eher auf Null zu summieren. Tristesse pur! Betonbauten im Nebel, Containerschiffe, Jachthafen und Docks im Nebel, Oscar Niemeyers Vulkan im Nieselregen, das für seine Impressionisten bekannte MuMa leider keine Alternative, da nur mit Vorabbuchung zugänglich – das hatte ich mir anders vorgestellt. Vollends meine Stimmung ruiniert hatte das enge Parkhaus: in die erste Etage hatte ich das Auto noch unversehrt bugsiert, in die zweite nicht. »Frotter le mur« heißt das so verharmlosend im Französischen, aber das »Reiben« von Blech an Mauer hatte doch zu erheblichen Kratzern am (geliehenen) PKW geführt. Glücklicherweise habe ich dem Impuls, Le Havre die Schuld am ganzen Malheur zu geben und doch gleich nach Deutschland weiterzufahren, nicht nachgegeben. Dank vier schöner Entdeckungen – der Markthalle, der Buchhandlung La Galerne, der Strandpromenade und der Jardins Suspendus – habe ich mich doch mit Le Havre angefreundet, und der erste Besuch bleibt nicht der letzte. Hier also meine Schlechtwettertipps…
Meister des Betonbaus: Die normannische Hafenstadt blickt auf eine wechselvolle Geschichte zurück. Durch Bombardierung im Jahr 1944 komplett zerstört, wurde die Innenstadt von Le Havre nach Zweiten Weltkrieg modern wiederaufgebaut. Verantwortlich war Auguste Perret (1874–1954), der in Deutschland kaum ein Begriff ist, jedoch zu den Pionieren des Stahlbetonbaus zählt. Lange galt die Nachkriegsarchitektur als urbane Steinwüste, seit 2005 zählt das Stadtensemble zum Unesco-Welterbe. In Le Havre entwickelte der französische Architekt und Stadtplaner für das im großen Stil verwandte Material eine neue Ästhetik, indem er dem Beton unterschiedliche Farbstoffe, Glassplitter, Kies oder Sand beimischte, sodass der Baustoff teils wie Naturstein wirkt. Doch dazu beim nächsten Besuch von Le Havre mehr, auch zur Street-Art und der zur 500-Jahr-Feier 2017 im öffentlichen Raum installierten Kunst wie der Containerskulptur am Quai de Southampton von Vincent Ganivet und den Silhouetten von Stephan Balkenhol an Perret-Gebäuden.
Les Halles Centrales: In der kleinen Markthalle herrschte Samstagstrubel. Neben einem Supermarkt beherbergt der Betonbau aus dem Jahr 1960 rund ein Dutzend Stände. Besonders verführerisch das Comptoir des Arômes, eine Ali-Baba-Höhle für Foodies mit rund 200 Teesorten, klassischen und ausgefallenen Gewürzen und einer Vielfalt an weiteren Zutaten wie Trockenfrüchten und Nüssen, Öl und Essig. Gleich gegenüber bezeichnet sich Brèves de Comptoir als »fournisseur d’apéro« – von Spirituosen und Wein über Oliven bis zu Dips. Aus der Fromagerie chez Fabrice wurde Chez Marie-Pierre: Die große Auswahl, die mühelos die besten deutschen Adressen in den Schatten stellt, umfasst keineswegs nur die normannischen Spezialitäten wie Neufchâtel, Camembert, Petit Havrais, Livarot, Pont l’Evêque, sondern vom in Kastanienblättern eingepackten Banon aus der Provence bis zum Tomme de brebis aus Korsika viele weitere französische Käsespezialitäten, zudem Butter, Joghurt, Quark. Ein paar Straßen weiter ist auch die Buchhandlung La Galerne hervorragend sortiert – auf 1300 m2 sind rund 70.000 Titel vorrätig.
Au bord de la mer: Gerade mal ein paar Schritte vom Zentrum der »cité océane« entfernt sind alle die auf dem Wasser, die ein Segelboot ihr eigen nennen. Die halbe Stadt verbringt den Samstag am Strand – die einen bummeln über die zwei Kilometer lange Promenade, andere essen die traditionellen »moules-frites« in einer der lässigen Strandbars, schwimmen im Freiluft-Piscine, picknicken am Kieselstrand, spielen Volleyball oder Pétanque, die Kids üben Sprünge auf der Skateranlage oder kicken auf der grünen Wiese. Da macht allein das Zuschauen Urlaubslaune – bei Nebel wie bei Sonnenschein. Wer eine Badekabine hat, öffnet die Türen, holt Gartenstühle und Tisch heraus und macht es sich bei Wein und Proviant sozusagen vor der eigenen Haustür gemütlich. »Bunt ist meine Lieblingsfarbe«, hat Walter Gropius, Gründer des Bauhauses, mal gesagt. Das dachten sich vielleicht auch die Besitzer der Strandkabinen, sodass die meisten der traditionell eigentlich weißen »cabanes« zur 500-Jahr-Feier ihre bunten Streifen erhielten.
Angenehme Zeit bei Westwind: Das charmante Boutique-Hotel befindet sich in einem Perret-Bau mit Blick auf die Kirche Saint-Joseph. Das mit Segelschiffmodellen aus Holz, Leuchtturmgemälden und Seefahrergerät maritim gestylte Hôtel Vent d’Ouest ist der perfekte Ort zum Übernachten. Im hübschen Frühstücksraum zeugt auch das gute »petit déjeuner« von Qualitätsbewusstsein, so gibt es etwa die tollen Säfte von Alain Milliat. Wer wie ich einen windigen, kühlen Tag in der Küstenstadt erwischt, kann im Spa entspannen oder eine Massage buchen. Nur vom Parkhaus um die Ecke rate ich ab…
www.leshallescentrales-lehavre.fr