SUSANNE WIBORG: DER GLÜCKLICHE HORIZONT
Landpartie: So gut wie immer lese ich mehrere Bücher parallel. Oft haben sie wenig oder gar nichts miteinander zu tun. Doch manchmal treten die Bücher zueinander in Beziehung, und ganz selten verschränken sich die Lektüren zu einem gemeinsamen Leseerlebnis. Genau daher beginnt diese Empfehlung eines Sachbuchs mit einer Textstelle aus einer literarischen Erzählung – der »Landpartie« von Eduard von Keyserling (1855–1918), erneut gelesen im großen Manesse-Sammelband des gleichen Titels. Dieser Autor des Fin de siècle war schon vor einiger Zeit eine große Leseentdeckung für mich, mit dem Roman »Wellen« in der Reclam-Ausabe und den »Feiertagsgeschichten«, erschienen im Steidl Verlag. An Keyserlings atmosphärisch dichte Beschreibung einer Welt von gestern, die genau gesehenen Details, die feine psychologische Figurenzeichnung und seine Dialoge konnte ich mich erinnern, doch erst jetzt fielen mir seine wie impressionistisch hingetupften Landschaften auf, die sinnliche Anschaulichkeit seiner Schilderungen von Farben, Tönen, Düften…
»Die Sonne ging hinter dem Waldsaum unter, eine farbige Erregung zitterte über das stille Land, der Bach wurde ganz rot, und die blühende Wiese lag da wie rotes Gold. In der Gesellschaft schwiegen plötzlich alle, hoben die Gesichter, lächelten mit halbgeöffneten Lippen, als wollten sie das farbige Leuchten in sich hineintrinken. […]
„Wir wollen noch auf den Mond warten“, sagte die Prinzessin, als die Gesellschaft wieder um sie versammelt war. Es dunkelte bereits stark. Die Juninacht brach an mit ihrer wunderlichen Dämmerung, in der wir das Land wie durch graue Glasscheiben sehen, der Bach begann zu dampfen, von der Wiese kam ein feuchtes Wehen und brachte das starke, süße Duften der blühenden Gräser und des blühenden Klees mit. In den Saatfeldern huben die Wachteln zu schnarren an, und ringsum im Grase ließen Feldgrillen sich vernehmen, aber zögernd und abgebrochen, als wollten sie ihre Geigen stimmen.«
Wiese und Wald, Moor und Heide: Der Wiese ist auch ein Kapitel in »Der glückliche Horizont« von Susanne Wiborg gewidmet, einem literarischen, natur- und kulturgeschichtlichen Streifzug durch acht Landschaften von der Küste bis zum Gebirge. Die fröhlich-einladende Blumenwiese ist dabei der »locus amoenus«, Inbegriff der Idylle und »Verkörperung von Sommer und Sinnlichkeit, Buntheit und Heuduft«. Wiborg stellt uns einen der artenreichsten Lebensräume vor und verweist gleich zu Beginn des Kapitels darauf, dass die Idylle menschengemacht ist. »Wiesen sind Kulturlandschaft durch und durch. Ohne den Menschen und sein Vieh wären sie nie entstanden, ohne seine regelmäßige Pflege«, also Mähen oder Verbiss durch Weidetiere, gehen solche Naturparadiese voller Blumen verloren. Jede Wiese ist einzigartig, ein spezielles Biotop, doch »in Europa dramatisch bedroht« durch die mechanisierte Landwirtschaft und groß angelegte Flurbereinigung. Ein Ökosystem, das eigentlich ein Teil unseres Kulturerbes darstellt, die »bunte Wiese mit ihren Blumen, Insekten und Vögeln ist um 98 Prozent zurückgegangen und damit der bedrohteste Lebensraum Deutschlands – der stille Regenwald vor unserer Haustür«.
Nature Writing: Ihre Belege für das Schreiben über Natur findet die Journalistin vorwiegend in der deutschsprachigen Literatur, von gelegentlichen Ausflügen zu Harry Potter und Sherlock Holmes, Mary Shelley, Emily Dickinson und Shakespeare mal abgesehen. Susanne Wiborg interessiert sich für die Wechselbeziehung von Landschaften und Menschen, fragt danach, wie die Bewohner ihren Lebensraum erleben, prägen und beschreiben. Ihre Beispiele stammen auch aus Zeiten, als der Wald noch unheimlich, das Moor gefährlich und die Berge herausfordernd waren, und reichen bis in die Gegenwart, wo die Bundeswehr durch Beschuss einen Großbrand im Moor verursacht, der Wald vor allem ein Rohstofflieferant ist und die Berge eine touristische Einnahmequelle. Mit ihrem Buch plädiert Susanne Wiborg fürs Hinsehen, Kennenlernen und für die Achtung des Lebensraums rundum, ob beim Spaziergang oder beim literarischen Streifzug durch Texte, die verschiedene Landschaftstypen »konserviert und gespiegelt« haben.
Susanne Wiborg: Der glückliche Horizont. Was uns Landschaft bedeutet, Verlag Antje Kunstmann, München 2023