ROMAN KÖSTER: MÜLL

Abfallforschung: In drei große Epochen gliedert der Autor seine »schmutzige Geschichte der Menschheit«. Von der Frühgeschichte über das Industriezeitalter bis zum Massenkonsum der Gegenwart spürt er den unerwünschten Überresten nach, dazu gehören Fäkalien und Faulendes, Nutzloses und Kaputtes, Schrott und Asche, Knochen, Glas, Plastik und mehr. Im Lauf der Geschichte hat sich nicht nur die Art des Abfalls verändert, sondern auch die Praktiken des Wegwerfens, Entsorgens und Wiederverwertens und nicht zuletzt die Vorstellungen von Wert und Unwert der Dinge.

Knappheit der Güter: In der Vormoderne war Unrat vor allem ein praktisches Problem, seit die Menschen begannen, in größeren Siedlungen oder Städten zu leben. Dort musste in irgendeiner Form für die Beseitigung des Abfalls gesorgt werden, mit Senkgruben und offenen Kanälen etwa und dem Abtransport mit Fuhrwerken. Manches ermöglichte Armen sogar, ein bescheidenes Auskommen zu finden, beispielsweise als Lumpensammler. Metall wurde wiederverwertet, Exkremente und der Dung der Tiere dienten als Dünger, es gab wenig, meist organischen Abfall, und wegen der Knappheit der Dinge existierten starke Anreize, Materialien zu reparieren und weiter zu nutzen.

Das Industriezeitalter: Im 19. Jahrhundert wuchsen die Bevölkerung und der Urbanisierungsgrad, gleichzeitig stiegen die Müllmengen, setzte sich aber auch langsam die Trennung von Abwässern und festem Abfall durch – unterirdische Kanalisationssysteme und regelmäßige Müllabfuhr wurden Teil der technischen Infrastruktur. Allerdings lösten sie nicht nur Probleme, sie schufen auch neue. Im 19. Jahrhundert wuchs zudem das Wissen um die hygienischen Probleme von Schmutz und Abfall, als Choleraepidemien zu einem globalen Problem wurden. Wie auch im vorherigen Kapitel widmet sich Köster sehr differenziert den unterschiedlichen Aspekten, etwa welche Belastung weiterhin Tiere verursachten, insbesondere Pferde, unverzichtbar und zugleich eine Plage mit 20–40 Kilogramm Fäkalien pro Tag. »Große Stallanlagen prägten die bauliche Gestalt vieler Metropolen, und Buenos Aires beherbergte um 1880 über 2700 Pferdeställe.« Bei einem großen Stallbrand in New York 1887 kamen über 1000 Pferde ums Leben, deren Kadaver in den Hudson geworfen wurden. Wir erfahren mehr zur Kommunalisierung der Müllabfuhr, über die Erfindung der Mülltonne und der Rolle von Paris als Vorreiterin dabei, zu Deponien und Müllverbrennung, über Kolonialismus und Städtehygiene, über Recycling im Industriezeitalter und den langsamen Abschied von der Gebrauchtware.

Wegwerfgesellschaft: Laut den Statistiken des Umweltbundesamts wächst der Haushaltsmüll von Jahr zu Jahr. Warf jeder Einwohner im Jahr 2000 im Durchschnitt 458 Kilogramm weg, stiegt der Wert bis 2021 auf 562 Kilogramm (inklusive Sperrmüll), das statistische Bundesamt nennt sogar 619 Kilogramm – eine kaum fassbare Menge. Dazu kommen in großem Umfang Bau- und Gewerbeabfälle. Allerdings wird das Abfallaufkommen gar nicht bei den Haushalten erfasst, sondern bei den Betreibern der Entsorgungsanlagen, es sind auch aufgrund unterschiedlicher Bilanzierung nur Näherungswerte.  »Trotz aller Anstrengungen, Müll zu messen, ist er in vielerlei Hinsicht ein Verzweiflungsgebiet der Statistik geblieben.« Angeblich werden 98 Prozent recycelt, doch das ist reine Augenwischerei, da auch die »thermische« Verwertung, also das Verbrennen, eingerechnet wird. Dass die Müllmengen seit dem 20. Jahrhundert exponentiell zunahmen, liegt am Wohlstandskonsum, an Ressourcenverschwendung und Verpackungsaufwand. Vom Ziel »Zero Waste«, einem vielgebrauchten Schlagwort, sind wir weit entfernt. In den reichen westlichen Ländern werden Lebensmittel unverbraucht weggeworfen, Textilien landen ungetragen in der Altkleidersammlung, funktionierende Elektrogeräte werden entsorgt. Auch hier bleibt der Autor nicht im Allgemeinen, sondern geht vielen Aspekten der Entwicklung nach, von Einwegflaschen über Wegwerfwindeln bis zu Kunststoffen.

Giftmüll und Plastikflut: Diskret entsorgt verschwindet der Müll rasch auf Deponien oder gleich im Ausland, wohin etwa Plastik, Textilien und marode Schiffe exportiert werden. Doch tatsächlich stellen die Mülllawinen der Gegenwart die Gesellschaft vor neue Herausforderungen: »Ging es vormals in erster Linie darum, den Stadtraum sauber zu halten, Geruchsbelästigungen zu vermeiden, die Ausbreitung von Infektionskrankheiten zu verhindern, erfuhr man jetzt von ganz anderen Gefahren, die im Müll lauerten: Die Vergiftung der Umwelt durch Müll wurde zu einem großen Thema«. Die reichen Länder produzieren den meisten Müll, doch sie versagen bei dessen Beseitigung. Während zuvor das Sammeln des Mülls das Kernproblem gewesen war, ging es nun um dessen Lagerung. »War der Müll aus dem Stadtraum weggeschafft, war das Problem nun gerade nicht mehr gelöst.« Das zeigten drastisch Deponie-Explosionen und -Erdrutsche, Giftmüll-Skandale und internationale Müllexporte. Wir erfahren mehr über umweltsichere Deponien und Müllverbrennungsanlagen, Environmental Justice und Elektronikschrott, Müllsammler und globalen Recyclinghandel.

Fragen und Debatten unserer Zeit: Mit seiner höchst informativen, spannenden und lesbaren Globalgeschichte des Mülls ist dem Historiker Roman Köster ein in jeder Hinsicht vorbildliches und erhellendes Sachbuch gelungen, das jetzt auf der Shortlist für den »Deutschen Sachbuchpreis« steht. »Er analysiert die Geschichte  der Entstehung von Müll und die Verbindung mit der kapitalistischen Wirtschaftsweise auf sehr verständliche Art, unterstützt durch anschauliche Beispiele«, heißt es in der Begründung der Jury. Im Vergleich zu einem zuvor gelesenen Buch über »Mensch und Müll« schätze ich vor allem die präzise Schreibweise und nachvollziehbare Argumentation mit umfangreichem Nachweis der Quellen; wie die lange Literaturliste unterstreichen sie die Seriosität des Projekts. Ich drücke die Daumen für die Auszeichnung!

 

Roman Köster, Müll. Eine schmutzige Geschichte der Menschheit, C.H.Beck, München 2023