PARISER MÉTRO: DIE MILCHSTRASSE
Altes Eisen: Als in Paris die Jugendstil-Métroeingänge von Hector Guimard noch nicht unter Denkmalschutz standen, wurden viele abgebaut und ausrangiert. Teilweise aber auch verschenkt: So stehen in Moskau (Station Kiewskaja), Lissabon (Station Picoas) und in Mexiko-City (Station Bellas Artes) Originale aus Paris. Die Anregung kam von Jean Drapeau, dem Bürgermeister der kanadischen Stadt Montréal. Er hatte in Paris in den 1960er-Jahren gesehen, wie ein Art-Nouveau-Eingang von Guimard an der Place de l’Etoile abgerissen wurde. 1967 lieh die RATP seiner Stadt ein solches Stück aus verflochtenen Eisenträgern. In Montréal gehört es zur Métrostation Square Victoria, und anlässlich der Renovierung 2003 wurde aus der Leihgabe ein dauerhaftes Geschenk.
Potlatch zwischen Großstädten: Diese Geschenke waren meist mit Gegengeschenken verbunden, in der Regel Kunstwerke. Montréal revanchierte sich mit der »Milchstraße«. Das Glasmosaik der Künstlerin Geneviève Cadieux aus Québec – seit Oktober 2011 in einem Tunnel der Pariser Métrostation Saint-Lazare zu sehen – ist das Ergebnis eines Wettbewerbs. Die STM (Société de Transport de Montréal) hatte dazu aufgerufen, sich mit der französischen Sprache auseinanderzusetzen.
Milchstraße: »La Voie Lactée« heißt das Werk der 1955 geborenen Fotografin, die für großformatige Detailaufnahmen des menschlichen Körpers bekannt ist. Ihr überdimensionaler Mund steht als weithin sichtbare Installation auf dem Dach des Musée des Beaux-Arts in Montréal (und war auch schon Motiv einer kanadischen Briefmarke). Geneviève Cadieux fotografierte dafür ihre Mutter, was vielleicht den Titel des Werks erklärt als Ausdruck einer intimen Beziehung … Der antiken Sage nach habe Göttin Hera Milch über den Himmel verspritzt, als sie beim Erwachen plötzlich einen fremden Säugling an ihrer Brust trinken sah.
Steinchen für Steinchen: In Paris verkörpern die Lippen symbolisch den Ursprung des Sprechens. Das Mosaik ist die figurative Umsetzung der fotografischen Vorlage, deren Ausführung von der Mayer’schen Hofkunstanstalt aus Deutschland übernommen wurde. Das 1847 gegründete Münchner Unternehmen zählt weltweit zu den ersten Adressen für Glasgestaltung und Mosaike und kann eine beeindruckende Referenzliste mit Projekten rund um den Globus vorweisen. Der 20 Quadratmeter große rote Mund wurde aus rund 200.000 Glasssteinchen zusammengesetzt.
Blickfang? Die Zeilen eines Gedichts von Anne Hébert auf den weißen Kacheln des Tunnels, die ebenfalls zur Installation gehören, bleiben unauffällig, aber auch die roten Lippen wecken wenig Aufmerksamkeit bei den vorbei hastenden Pariser Passanten. Weil alle immer in Eile sind, aber wohl auch, weil auf den riesigen Plakaten in der Métro rot geschminkte Münder in Übergröße (nicht nur für Lippenstiftwerbung) keine Seltenheit sind.