LAUREN ELKIN: FLÂNEUSE. FRAUEN EROBERN DIE STADT

Gehen ist Kartografieren mit den Füßen: »Es hilft, sich die Stadt zusammenzusetzen, Viertel miteinander zu verknüpfen […].« Wie Lauren Elkin spaziere ich gerne zu Fuß durch Städte und mag es, Übergänge zu betrachten und die Grenzen der Pariser »Dörfer« zu entdecken. Ich laufe durch Viertel, die ich gut kenne, durch andere, die ich lange nicht mehr besucht habe, manchmal bewusst durch Straßen, in denen ich noch nie zuvor war. »Ich gehe, weil es in gewisser Hinsicht wie lesen ist.« Bin ich zum ersten Mal in einer Stadt, wie zuletzt in Lissabon, lasse ich alle Sehenswürdigkeiten links liegen und streife durch Wohn- und Geschäftsviertel, in meinem eigenen Tempo, um ein Gefühl für den Ort zu bekommen, mich zu »verorten«.

Flâneur, Flâneuse: Klar also, dass ich beim Buch der amerikanischen Essayistin, Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin Lauren Elkin zugegriffen habe – unter dem Titel »Flâneuse« geht es ihr um die Geschichte des weiblichen Flanierens. Es war ein eingeschweißtes Exemplar, das ich vielleicht doch nicht gekauft hätte, wäre mir der »Hemmingway« mit zwei M im Klappentext nicht erst zu Hause aufgefallen, was nicht für ein kompetentes Lektorat spricht. (Leider geht es mit »Sheakespeare« auf der ersten Seite des Paris-Kapitels gleich so weiter…) Von Frauen, die die Stadt erobern, in Paris, New York, Tokio, London und Venedig soll es handeln, verspricht der Untertitel, mich interessieren aber vor allem die Kapitel über Paris. Auch ich habe mehr von Flâneuren gelesen, Walter Benjamin und Franz Hessel, Léon-Paul Fargue und François Maspero, Louis Aragon und Louis Mercier. Wen würde ich zu den Flâneusen zählen, vielleicht Rosa Bonheur, Djuna Barnes oder Janet Flanner? Ich war gespannt. Ein Register hat das Buch nicht, das zweite Manko dieser Ausgabe.

Gehen, spazieren, flanieren: Stets spazierten Männer als Flâneure durch die urbane Umgebung, langsam, ziel- und scheinbar anlasslos streiften sie durch Europas Großstädte. Anders als für den Flâneur war es für Frauen über Jahrhunderte durchaus keine Selbstverständlichkeit, sich den öffentlichen Raum zu erobern. Lange durften sie ohne Begleitung draußen gar nicht unterwegs sein, jedenfalls, was zweckfreies Promenieren im Gegensatz zu den zielgerichteten und notwendigen Dienst- und Botengängen der unteren Schichten anging. Schon ein Spaziergang galt als unschicklich, allein auf den Boulevards einer Stadt zu promenieren, war undenkbar. Lauren Elkin zeigt in ihrem Buch, dass das Flanieren bis heute ein emanzipatorischer Akt ist – am Beispiel von Virginia Woolf, Martha Gellhorn und Sophie Calle etwa, und anhand ihrer eigenen, ganz persönlichen Eindrücke und Erlebnisse. Die ersten Kapitel habe ich sehr gern gelesen, die Autorin verknüpft die Geschichte von Schriftstellerinnen und ihren literarischen Figuren mit eigenen Lieben und Lebenssituationen, sehr lesbar und gebildet, aber erfreulich unakademisch. In den Paris-Kapiteln geht es um Jean Rhys, George Sand und Agnès Varda: Ich schätze die Romane von Jean Rhys und noch mehr die Filme von Agnès Varda, sehe auch den Verdienst von George Sand. Aber dennoch war ich enttäuscht, hatte statt exemplarischer Einzelfälle offensichtlich eine größere Bandbreite erwartet. Der autobiografische Bezug und die detailfreudige Ausführlichkeit, mit der die feministischen Vorbilder vorgestellt werden, ermüdet doch eher, wenn man die entsprechenden Texte, Filme oder Biografien bereits kennt. Weil sich die Fehler leider häufen (Rue Vauginard S. 126, Parc Monstouris, S. 130, Cimitière S. 133, Rue Beautreilis S. 135, Napoelon S. 139, Noirmutier S. 270) habe ich mir die restlichen Kapitel geschenkt und nicht mehr gelesen.

Mein Fazit ist daher ambivalent: Als Kulturgeschichte weiblicher Selbstermächtigung ist das Buch unterhaltsam und lesenswert, speziell für Paris aber eher unergiebig. Und der Genre-Mix von Autobiografie und Lektüre-Analyse, subjektiver Herangehensweise und essayistischer Schreibweise erreicht nie das Reflexionsniveau, mit dem mich etwa die Biografien von Dieter Kühn begeistern konnten (der »sein Spüren und Suchen, sein Verifizieren und Erkunden in die Beschreibung des Gegenstandes selbst einfließen ließ. Kühn referiert, wie er Burgruinen besteigt, Urkunden liest, Experten befragt, Archive durchforstet, und er bewährt sich als Historiker und übersetzender Philologe vortrefflich. Er hebt die historische Distanz auf, indem er sie bewußtmacht.« Peter Wapnewski 1977 im Spiegel über »Oswald von Wolkenstein«, ein Buch, das mich eben ob dieser Methodik nachhaltig beeindruckt hat). Ganz offensichtlich hat die Autorin auch die Literatur zur Kulturgeschichte des Spaziergangs oder Bücher wie »Frauen auf eigenen Füßen. Spazieren, Flanieren, Wandern« von Karin Sagner nie in der Hand gehabt – Ähnliches müsste es doch eigentlich auch in den USA oder Frankreich geben.

Lauren Elkin, Flâneuse. Frauen erobern die Stadt – in Paris, New York, Tokio, Venedig und London, btb München 2018, 392 Seiten

Cover: © btb Verlag München

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