JEAN MALAQUAIS: PLANET OHNE VISUM
Marseille 1942: In der noch unbesetzten Zone im Süden Frankreichs sammeln sich in der Hafenstadt immer mehr Menschen auf der Flucht vor den Nazis, die sich hier zeitweilig etwas sicherer fühlen können, während sie für Pässe, Aufenthaltsgenehmigung und Visa zur Ausreise anstehen. Doch auch in Marseille ist das Leben mühsam und entbehrungsreich, nicht nur müssen jüdische und politische Flüchtlinge sich vor Denunziation, Verhaftung, Polizeischikane, Internierung und Deportation fürchten, auch an Geld und Lebensmitteln mangelt es. Die Entwurzelten waren in Marseille gestrandet, am Hoffnung verheißenden Meer: »Jenseits des rettenden Wassers lockten England, Afrika, Amerika, man brauchte es nur zu überschreiten. Oder auszutrinken. An Bord einer Nussschale, die sie in Cassis aufgetrieben hatten, segelten drei von ihnen aufs Geratewohl los – mit einem Sextanten aus zweiter Hand, Pfadfinderkompass, aus dem Geografischen Institut entwendeten Seekarten, Konservenbüchsen und Trinkwasser ausgerüstet und seelenruhig auf das erste britische Unterseeboot vertrauend, dem sie begegnen würden. Eine Woche später waren sie zurück, aufgedunsen und grün verfärbt, zwei auf den Felsen der Madrague, der dritte an der Rhône-Mündung, und auch die Nussschale war wieder da, entmastet und kieloben.«
Nicht nur Geflüchtete lässt Jean Malaquais in »Planet ohne Visum« auftreten, in seinem vielstimmigen Roman begegnen wir Marseiller Arbeitern und Bürokraten, einem Gastwirtsehepaar und einem spanischen Maler, dem Mitarbeiter einer internationalen Hilfsorganisation, kommunistischen Widerstandskämpfern, Spitzeln und Legionären, russischen Dissidenten und französischen Aristokraten. Viele sind an reale Vorbilder angelehnt, so stand für Aldous John Smith im Buch der Amerikaner Varian Fry mit seinem amerikanischen Emergency Rescue Committee Pate, der viele Menschen vor dem Tod bewahrt (und auch selbst seine Erinnerungen veröffentlicht) hat. Doch nicht als Schlüsselroman ist »Planet ohne Visum« ein literarisches Ereignis, sondern als Zeitdokument über Flucht und Verfolgung, Kollaboration und Integrität, Überleben und Leiden in Zeiten des Kriegs und der Besatzung. Und höchst spannend zu lesen – die Schicksale der Romanfiguren, deren Vorgeschichten teils in Rückblicken aufscheinen, sind kunstvoll miteinander verflochten.
Der Autor: Jean Malaquais, 1908 als Wladimir Malacki in Warschau geboren, hatte für sein Debüt als Autor, den Roman »Les Javanais«, 1939 den Prix Renaudot erhalten. Dennoch fand der 1947 veröffentlichte »Planète sans visa« kein größeres Publikum: So kurz nach Kriegsende waren die Spannungen zwischen Widerstandskämpfern, Kollaborateuren und Mitläufern noch längst nicht überwunden, dennoch oder gerade deswegen wollte man sich mit der Beziehung zwischen Vichy-Regime und Drittem Reich nicht näher befassen. Jean Malaquais starb 1998 in Genf, hatte zuvor aber noch eine Neuausgabe seines Romans begleitet. Diese überarbeitete und gekürzte Fassung liegt der Übersetzung zugrunde.
Die Übersetzerin: Für Nadine Püschel war die Übertragung des französischen Originals ins Deutsche nicht nur wegen des Umfangs eine Herausforderung, sondern auch aufgrund der gewaltigen Wortschatzarbeit: Es sei »unfassbar, was Malaquais als Nicht-Muttersprachler für einen Ausrucksreichtum hatte – […] er benutzte viele sehr seltene Wörter, Slang, Fachbegriffe, kuriose idiomatische Wendungen … […], konnte von Pathos bis Slapstick wirklich alles«. (Nadine Püschel im Interview mit Katharina Picandet). Neben ihrer sorgfältigen Übersetzung hat sie auch ein Nachwort zur deutschen Ausgabe beigesteuert. Die Kosten für so einen dicken, 660 Seiten starken Wälzer sind eigentlich nur zu kalkulieren, wenn zumindest für die Übersetzung Fördermittel mit ins Budget einfließen, hier haben Deutscher Übersetzerfonds und Mittel des Programms Neustart Kultur die Veröffentlichung unterstützt.
Buch und Verlag: Typografisch toll gestaltet wurde der Umschlag von Olga Machverkova, gut gefällt mir auch das Hintergrundfoto, das den Hafen in Marseille noch mit dem Pont Transbordeur zeigt. Die 1905 erbaute, mehr als 50 Meter hohe Stahlkonstruktion transportierte Menschen und Wagen von einem Ufer zum anderen mithilfe einer an Stahltrossen aufgehängten Fähre, die so hoch über dem Wasser gleitet, dass Boote noch unter ihr passieren können – »vorn, grade da, wo die letzten Fortifikationen das Becken vom offenen Meer trennen, erhebt sich der riesige Pont transbordeur, die Überladerbrücke«, beschrieb Kurt Tucholsky das heute verschwundene Bauwerk.
Der Hamburger Verlag Edition Nautilus, Mitte der 1970er-Jahre gegründet, wird heute von einem fünfköpfigen Team geleitet, an das die Mitgründerin Hanna Mittelstädt den Verlag 2018 übergeben hatte. Neben politischen Schriften, Biografien und Krimis erschienen im Lauf der Jahre immer wieder vergessene Texte der klassischen Moderne – dieser weiteren Entdeckung, mit der Jean Malaquais Marseille ein literarisches Denkmal setzt, sind möglichst zahlreiche Leserinnen und Leser zu wünschen.
Jean Malaquais, Planet ohne Visum, aus dem Französischen übersetzt von Nadine Püschel, Edition Nautilus, https://edition-nautilus.de, Hamburg 2022