HELEN WOLFF: HINTERGRUND FÜR LIEBE
Hintergrund für Liebe: Das bezauberndste Buch über die Côte d’Azur, das man sich denken kann und das ich je gelesen habe, lag Jahrzehnte in einem braunen Umschlag, verschlossen in einer Kiste auf dem Dachboden, versehen mit der Aufschrift: »At my death, burn or throw away unread!« Den Auftakt des Romans von Helen Wolff bildet die Fahrt von Deutschland nach Nizza, Anfang der 1930er-Jahre, nach einem langen Winter, und mit jedem Kilometer wächst die Vorfreude auf Frankreich. »Wir haben das Gefühl durchzubrennen, in das leichte Leben, in die besonnte Welt.« Via Schweiz und Savoyen geht es hinunter »in die selige Ebene, in den ersten Sonnentag, in ein makelloses Kirchenfensterblau«, die Landschaft wird südlicher mit Olivenwäldern, Mandelbäumen und Zypressen, rosa- und ockerfarbenen Häusern, klarem Frühlingshimmel und leuchtenden Farben. Man spürt geradezu die Erleichterung der beiden, endlich in Nizza und am Meer zu sein, bei Rosé und Bouillabaisse an der Promenade des Anglais – »Hitler und Hindenburg sind weit«.
Buch eines Sommers: Ich-Erzählerin ist eine junge Frau, die mit ihrem Liebhaber für mehrere Wochen, vielleicht sogar für Monate an die Côte d’Azur reist. Die Rollenverteilung ist klar: er ist deutlich älter und deutlich wohlhabender, er hat den großen Wagen, und er ist der erfahrene Mann von Welt, der im Grandhotel und Casino zuhause ist, auch in Nizza oder Menton alle Welt kennt, und den sie mit anderen Frauen teilen muss. Sie hat sich das anders vorgestellt, träumt vom einfachen Glück am Meer und auf der grünen Wiese. Als es ihr zu bunt wird, verlässt sie ihn und will eigentlich nach Deutschland zurückkehren. Doch dann kommt Liebe auf den ersten Blick dazwischen. Liebe zu Saint-Tropez – mit seinem Hafen, den bunten Fensterläden, den warm getünchten Fassaden, dem kleinen Leuchtturm. Für drei Monate mietet sich die junge Frau allein ein kleines Häuschen inmitten von Weinfeldern und Schilf und genießt ihre selbstgenügsame Einsamkeit. Was sie sich anders vorgestellt und gedacht hatte, wird immer unwichtiger. »Wer schwimmt, der schwimmt. Und wer untergeht, geht unter. Aber man soll während des Schwimmens nicht ans Untergehen denken.« Das Schwimmen, das hier als Metapher dafür steht, das Leben anzunehmen, hilft auch ganz real, »es ist herrlich, einzutauchen, unterzutauchen, alles wegzuspülen, was mir Kopf und Herz schwer macht«. (Oder siehe auch eine weitere Lieblingspassage: das Baden an Mistralmorgen, wenn der Wind wirkliche Wellen auftürmt). Und wie der Zufall so will, als die junge Frau ihr eigenes Leben lebt, neue Freunde und Ruhe findet, taucht auch der Mann wieder auf, bald beeindruckt von ihrer Unabhängigkeit – und bleibt.
Ein Liebesroman mit autobiografischen Zügen: Auch Helen Wolff war Anfang der 1930er-Jahre mit dem zwanzig Jahre älteren Kurt Wolff auf Reisen in Südfrankreich. Noch im Nachruf auf Helen Wolff konnte Rolf Michaelis 1994 anlässlich ihres Todes in der ZEIT über die »Tür- und Herzöffnerin« schreiben: »Im Alter von 88 Jahren ist in Amerika eine Frau gestorben, die außer Briefen und ermunternden Notizen keine Zeile Poesie oder Prosa geschrieben hat.« Denn ihre eigenen Theaterstücke und Romane, entstanden in den 1930er-Jahren, hielt Wolff lebenslang unter Verschluss. Jetzt, 26 Jahre nach ihrem Tod, ist ihr Roman im Weidle Verlag erschienen. Historikerin Marion Detjen, deren Großtante Wolff war und die am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam der legendären Verlegerin eine biografische Studie widmete, ist die Herausgeberin. Ihr umfangreiches, höchst informatives Nachwort über das Verlegerpaar, Emigration und Exil ist der zweite Grund dieses Buch zu lesen.
Grand Dame of Letters: So pries die New York Times 1979 die aus ihrer Heimat vertriebene Verlegerin. Gemeinsam mit Kurt Wolff (1887–1963), den Helen 1933 heiratete und mit ihm aus Deutschland über Frankreich nach Amerika emigrierte, gründete sie Anfang der 1940er-Jahre den Verlag Pantheon Books und 1961 das Imprint für europäische Literatur »A Helen and Kurt Wolff Book« im Verlagskonzern von Harcourt, Brace. Dass deutsche Autoren wie Max Frisch, Günter Grass, Uwe Johnson oder Jurek Becker auch in Amerika literarische Präsenz und erstaunlich hohe Auflagen erreichen konnten, das lag maßgeblich auch an diesem großartigen Verlegerpaar. Nach dem Tod ihres Mannes im Jahr 1963 führte Helen Wolff den gemeinsamen Verlag lange allein weiter, bis sie 1994 starb. Günter Grass hat ihr in seinem Nachruf gedankt, stellvertretend auch für viele Kollegen: »Welch eine Verlegerin! Wo hat es das jemals gegeben: So viel episch andauernde Liebe zu Autoren, so viel Nachsicht mit chronisch egozentrischen Urhebern, so viel verläßliche Kritik, die nichts besser, aber manches genauer wissen wollte, so viel Gastlichkeit und wohnlich einladender Hintergrund, der den oft genug an der Bühnenrampe turnenden, sich selbst erschöpfenden Schriftstellern Zuflucht und mehr als einen Drink geboten hat.« (Nachruf auf Helen Wolff, Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, anlässlich der Verleihung des Friedrich-Gundolf Preise 1994)
Helen Wolff: Hintergrund für Liebe mit einem Nachwort von Marion Detjen
Weidle Verlag, Bonn 2020, 216 Seiten, 20 Euro
Auch zum Verleger Kurt Wolff (1887–1963) ist im Weidle Verlag eine umfangreicher Band erschienen, sorgfältig ediert von Barbara Weidle.