FRIEDRICH CHRISTIAN DELIUS: DARLING, IT’S DILIUS

Erinnerungen mit großem A: Gastbeitrag von Dr. Christoph Fischer. Seine Bücher begegnen einem immer wieder, das gilt auch für seine Memoiren (2023). »Darling, it’s Dilius«, einen besseren Titel hätten sie nicht finden können bei Rowohlt in Berlin. Cecile Abish rief es durch den Raum in New York, »laut und fröhlich«, als Friedrich Christian Delius – bei Briten und Amerikanern immer nur »Dilius« – am Telefon auf den US-Kollegen Walter Abish wartete, den Autor, dem Delius »die Anregung, Autobiographisches in alphabetische Pseudoordnung zu bringen«, verdankte. So entstand das letzte Buch, der letzte Titel von Delius, er brachte es kurz vor seinem Tod im Mai 2022 noch an die Druckmaschinen.

Was für ein schönes Buch, »Erinnerungen mit großem A«. Man legt das nur ungern aus der Hand. Das ging mir auch mit »Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde« so, eine Erzählung von 1994, 40 Jahre nach dem »Wunder von Bern« – eines meiner Lieblingsbücher, fast so etwas wie seine erste Autobiographie. Als Delius schildert, wie der Fußball am 4. Juli 1954 mit dem ersten Weltmeistertitel für die deutsche Nationalmannschaft im Wankdorf-Stadion zu Bern für den damals Elfjährigen zur Orientierung wurde. Dem Fußball blieb Delius verbunden, wenn auch nicht lebenslang mit der Emphase dieser Erzählung. Aber er erwähnt es in seinen Memoiren häufig, es muss ein wichtiges Buch gewesen sein für ihn. Für mich war es das, obwohl ich 1954 erst im Werden war.
Die Erinnerungen von Delius sind wunderbar zu lesen. Er zählte zu den Autoren, die in den 1960er-Jahren für Willy Brandt trommelten, gemeinsam mit Günter Grass, Siegfried Lenz und den anderen Intellektuellen der Republik. Delius rechnet mit den deutschen Kanzlerfiguren ab, die nach Helmut Schmidt kamen, und beschreibt dabei das Schwergewicht aus Oggersheim und seine Nachfolgerin aus Mecklenburg-Vorpommern treffend. Helmut Kohl, der gefeierte Kanzler der deutschen Vereinigung, für die er nichts konnte, und die ebenso gefeierte Angela Merkel, die Lobbyisten-freundlich in Berlin über 16 Jahre auf Strömungen und Befindlichkeiten nur reagierte, aber politisch phantasielos gar nichts bewegte. Natürlich auch mit Gerhard Schröder, der mit seinen Hartz 4-Gesetzen die Sozialdemokratie verriet, ein Vergnügen, diese Abrechnungen zu lesen, auch wenn es nichts mehr hilft.
Geboren in Rom, lebte Delius daselbst und in Berlin und in Bielefeld und in den Niederlanden, aufgewachsen als zurückhaltender und stets schweigsamer Pfarrerssohn in Nordhessen, stotternd in seiner Jugend, unsicher, auf der Suche, Schülerzeitung, erste Schreibversuche. Dass er in Bielefeld die Arminia auf der »Alm« besuchte, dass er Spiele sah wie ich, der ich mit Bielefeld weniger am Hut hatte, aber sehr litt, als der 1. FC Köln 1998 nach dem 1:2 auf der Alm erstmals in die 2. Bundesliga abstieg – ein schlimmer Samstag.
»Ärsche« und »Arschlöcher«: Auch schöne Stichworte aus dem Auftakt des Alphabets wie »Annemarie Liebrich«, die Frau von Weltmeister Werner, die sich immer darüber ärgerte, dass immer nur von Fritz Walter und Helmut Rahn die Rede war, wenn es um Bern 1954 ging, »Ausreichend«, die Abrechnung mit der Schule, »Asoziale Marktwirtschaft« und so weiter und so weiter. »Ausblick«, wie sich Kohl dagegen wehrte, Deutschland als Einwanderungsland zu bezeichnen und damit die Weichen für die Zukunft vollkommen falsch stellte – genau wie die blühenden Landschaften, die er im Osten der Republik versprach, ohne sein Versprechen zu halten. »Ausländerproblem, Deutschenproblem«, die Folge der falschen Kohl-Politik, »Auschwitz« selbsterklärend.
Der Rückblick auf die Dogmatiker der 68er, Delius legt Wert darauf, ein 66er gewesen zu sein, Propagandist der Sozialdemokratie, trotzdem von Brandt am Ende eher enttäuscht. Dass er lange Lektor bei Wagenbach war, promoviert 1970 bei Walter Höllerer in Berlin, nach erbittertem Streit mit Klaus Wagenbach den Rotbuch-Verlag mitbegründete, ehe er als freier Schriftsteller erfolgreich wurde, zunächst und immer wieder als Lyriker, aber dann eben auch als Schreiber von Erzählungen, Romanen, 2011 mit dem Georg-Büchner-Preis geehrt und damit 2011 endgültig in den literarischen Adelsstand erhoben.
Lesenswert alles, mehr muss man nicht sagen. Und vermutlich Auftakt, alles andere auch wieder zu lesen, die Gedanken von Delius zu rekapitulieren und sich vielleicht als älterer Mensch auch zu freuen, literarisch, politisch und überhaupt nicht immer daneben gelegen zu haben.
Friedrich Christian Delius, «Darling, it’s Dilius». Erinnerungen mit großem A, Rowohlt Berlin 2023