CAL FLYN: VERLASSENE ORTE

Pufferzonen und kontaminiertes Niemandsland: Für ihr Buch über »Verlassene Orte« hat Cal Flyn einige der menschenleersten Landstriche der Welt besucht – in den zwölf Kapiteln begleiten wir die Autorin unter anderem in die um den Kernreaktor von Tschernobyl errichtete Sperrzone, zum durch Dioxin vergifteten Fluss Passaic, zum Arthur-Kill-Schiffsfriedhof im New Yorker Bezirk Staten Island und in die Pufferzone zwischen dem griechischen und dem türkischen Teil von Zypern.

Industriebrachen: Interessant gleich das erste Kapitel über die Five Sisters in Schottland, enorme Abraumhalden aus dem 19. Jahrhundert, als in den frühen Tagen der Ölindustrie aus dem Schiefer Flüssigbrennstoff gepresst wurde. Die Millionen Tonnen von Schlacke des hocherhitzten Gesteins wurden noch glühend abgeladen und türmten sich im Lauf der Jahrzehnte zu Bergen aus kleinen Steinsplittern, zu öden, kahlen Geröllhalden, bis die letzte Schiefermine Schottlands Anfang der 1960er-Jahre schloss. Erstaunlicherweise blieb die ökologische Renaturierung mit dem Aufbringen von Mutterboden und dem Aussäen von Grassamen erfolglos, Fauna und Flora auf sich selbst überlassenem Schotter dagegen erholten sich. Bei dieser sogenannten »Primärsukzession«, dem bei Null beginnenden Bewuchs, siedelten sich auch seltene Pflanzen an, darunter Orchideen und Moose, die nur an wenigen Standorten noch vorkommen. Um solche Prozesse der Regeneration und um die Resilienz der Natur selbst in verzweifelten Lagen geht es in mehreren weiteren Geschichten.

Stadtruinen: Anders im zweiten Teil des Buchs, der vom wirtschaftlichen Niedergang der amerikanischen Städte Detroit und Paterson handelt. Zwar trifft die Autorin dort lebende Menschen, um die Ästhetisierung von Leerstand und morbidem Zerfall als »Ruin Porn« zu vermeiden, doch bleibt das Phänomen, dass Kriminalität und Gewalt, Armut und Drogenproblem mit urbaner Verwahrlosung einhergehen, merkwürdig unterbelichtet. Elend zieht weiteres Elend an, Abfall weiteren Abfall – eine Abwärtsspirale. In einer Stadt, die 60 Prozent ihrer Einwohner verloren hat, reicht es eben nicht zu sagen: »Der Mensch geht, die Natur kehrt zurück.« Heißt es zu Beginn im Buch, Gärten, Parks und Ackerflächen seien »ökologisch einfältig« und für die Biodiversität das artenreiche städtische »terrain vague« viel wichtiger, halten die Menschen in Detroit dann doch die verwildernde Natur durch Rasenmähen in Schach – inmitten leerstehender, geplünderter und verfallender Häuser, fehlender Infrastruktur und brachliegender Grundstücke schaffen sie so ein wenig symbolische Ordnung. Um aus Ruinen nach Jahrzehnten des Abschwungs eine lebenswerte Stadt auferstehen zu lassen, umfassen die Gegenmaßnahmen vor Ort denn auch eher Urban Farming als Schutzareale für Wildnis.

Zone Rouge: Den ökologischen Wert von Sperrzonen und Naturschutzreservaten (im großen Maßstab), von Wallhecken und Blühstreifen (im Kleinen) will ich damit aber keineswegs in Abrede stellen. Außer atomaren Katastrophen bringen auch Kriege Sperrzonen hervor – Tretminen und andere im Boden gebliebene Sprengvorrichtungen machen eine Konfliktzone so noch nach dem Ende der militärischen Auseinandersetzungen zu ungeplanten Naturschutzgebieten. Bei den Schlachtfeldern von Verdun ist es nicht nur deswegen gefährlich, ausgewiesene Wege zu verlassen. Cal Flyn berichtet von einer »Place de Gaz« benannten Stelle, an der die Gaswaffen kanisterweise vergraben und dann in Brand gesetzt wurden, wobei die entstandenen Arsengaswolken das Land vergifteten und der Boden bis heute so viel Schwermetalle enthält, dass man geradezu über einen Giftteppich läuft.

Invasive Arten: Lesenswert ist auch das Kapitel über einen aufgegebenen botanischen Garten der Kolonialzeit in Tansania. Aus dem zu Beginn des 20. Jahrhunderts angelegten Arboretum sind die fremden Bäume und Sträucher längst in die Bereiche jenseits der Plantagengrenzen entwichen: »Die einheimische Vegetation wurde überrumpelt.« Flyn beschreibt den »Überfall der Eindringlinge« in den Usambara-Bergen und invasive Arten generell als durchaus ambivalentes Phänomen. Einerseits verdrängen Neophyten einheimische Arten, bringen sorgfältig austarierte Symbiosen aus dem Gleichgewicht, verändern die Bodenchemie, Pflanzengemeinschaften und Nahrungsketten. Andererseits können auch Gegenmaßnahmen erheblichen Schaden anrichten…

Das Grüne Band: Die ehemalige innerdeutsche Zonengrenze zwischen BRD und DDR wird im Buch nur kurz erwähnt, früher ein schwer bewachter »Todesstreifen« für Flüchtende, heute ein Korridor für Wildtiere, ein fast 1400 Kilometer langes grünes Band zwischen Ost und West. An einer Stelle weist Cal Flyn darauf hin, dass bei der Rückverwilderung von nicht mehr genutzten Flächen oft Wald entsteht, dieses Ökosystem anders als oft angenommen aber keineswegs das artenreichste ist (allerdings ein gewaltiges Potenzial als Kohlenstoffspeicher besitzt). Das »Grüne Band Deutschland« umfasst ganz unterschiedliche Biotope, auch Moore und Auenlandschaften. Auf einigen der Flächen sorgt gezieltes Beweiden mit Ziegen und Schafen dafür, dass Lebensräume wie beispielsweise Magerrasen erhalten bleiben und frei von Wald gehalten werden. Der Erfolg dieses Naturschutzprojekts (trotz einiger Lücken), 2023 als Unesco-Welterbe vorgeschlagen, diente als Inspiration für das »Grüne Band Europa«, das von der finnisch-russischen Grenze entlang des ehemaligen eisernen Vorhangs bis zum Balkan reicht.

Naturkunden: Das höchst sorgfältig gestaltete Buch aus der von Judith Schalansky herausgegebenen Reihe »Naturkunden« nimmt man gern in die Hand – das haptisch angenehme Papier, die farblich ungewöhnliche Gestaltung mit dunklem Violett (Vorsatzpapier, Überschriften, Textschrift) und Orange (Kolumnentitel, Seitenzahlen, eingefärbte Abbildungen) und die Typografie gefallen mir mehr als gut. Leider stolpert man im Text über einige Flüchtigkeitsfehler und fragt sich an manchen Stellen der Übersetzung, was da wohl im Original stand (und im Impressum fehlt ein Hinweis auf den Originaltitel und den lizenzgebenden Verlag). Aber das trübt das Lesevergnügen nur punktuell – und aus eigener langjähriger Lektoratsarbeit weiß ich, dass es fehlerfreie Bücher gar nicht gibt. Die Vielzahl der auch über die zwölf bereisten Orte hinausreichenden Erkenntnisse über Lebensumwelten macht alle Kapitel trotz mancher pathetischer Passagen zur lohnenden Lektüre.

 

Cal Flyn, Verlassene Orte. Enden und Anfänge in einer menschenleeren Welt, aus dem Englischen übersetzt von Milena Adam, Matthes & Seitz, Berlin 2023