FONDATION CARTIER: NOUS LES ARBRES
Im Garten: Schon morgens um 11 Uhr muss man sich in eine Warteschlange einreihen – die Ausstellung über Bäume ist ausgesprochen gut besucht (übrigens ist auch die Übersetzung von Peter Wohllebens »Das geheime Leben der Bäume« in Frankreich ein absoluter Bestseller). Zuerst drehe ich eine Runde durch den von Lothar Baumgarten 1994 angelegten Garten der Fondation Cartier – dort gibt es Exponate von Agnès Varda, meiner Lieblingsregisseurin. Allerdings kann ich mit ihrer Katze auf einem Baumstumpf wenig anfangen. Anders die »Jahresringe« von Thijs Biersteker: Für das Projekt »Symbiosia« versah der niederländische Künstler zwei Bäume mit Sensoren an Wurzeln, Blättern und Ästen und bringt sie so zum »Sprechen«. Ein Algorithmus setzt die Reaktionen in digitale Bilder um und dokumentiert auf einem LED-Bildschirm, wie die Bäume Umwelteinflüsse, etwa den Feierabendverkehr, Regen oder Trockenheit, empfinden.
Urwaldszenarien: Im linken Galerieraum im Erdgeschoss ist Luiz Zerbini eine echte Entdeckung. Der 1959 in Sao Paulo geborene Maler, der in Rio de Janeiro lebt und arbeitet, zählt dort zu den etablierten Protagonisten der Kunstszene, auf Deutsch ist kaum etwas über ihn zu lesen (die Fondation Cartier dagegen hatte auch schon Werke im Rahmen der Ausstellung »Géometries du Sud. Du Mexique à la Terre du Feu«, Okt. 2018 – Feb. 2019 gezeigt). In seinen großformatigen, hyperrealistischen Gemälden vermischt der brasilianische Künstler die tropische Dschungelflora Südamerikas mit modern-urbanen Elementen. In der Mitte des Raums steht eine Chinesische Feige (Ficus microcarpa) mit ausgreifenden Luftwurzeln, umringt von einer Art Herbariumstisch (»table-herbier«) voll mit Samen und Blättern, die der Maler bei Spaziergängen gesammelt hat. Und ringsherum zeigen als drittes Element der Installation stilisierte Monotypien Blätter von Philodendren, Palmen, Schilfgräsern oder Farnen.
Die Architektur der Bäume: Im Untergeschoss möchte man sich mit der »Architektur der Bäume« von Cesare Leonardi und Franca Stagi länger befassen (ihre über 20 Jahre hinweg erarbeitete Dokumentation von Bäumen gilt seit der Erstauflage 1982 als Standardwerk) oder mit den Zeichnungen der Kolumbianerin Johanna Calle. In ihrem Werk sind Pflanzen und Umwelt zentrale Themen. Ihre Serie »Perímetros« mit den filigranen Baumsilhouetten auf altem Kanzleipapier war übrigens bereits im Winter 2017 im Rahmen einer Einzelausstellung im Maison de l’Amérique Latine zu sehen.
Meister des Dokumentarfilms: Lange habe ich auch im rechten Raum im Erdgeschoss verweilt. Im Film von Raymond Depardon und Claudine Nougaret sprechen Menschen in eindrucksvollen Interviews über ihren Respekt gegenüber besonderen Bäumen, einer großen Platane auf dem Dorfplatz, einer Eiche, in der Kinder klettern, einer mächtigen Libanonzeder. Gleich zweimal habe ich dem Bauern aus dem Lozère zugehört, der mit dem freundlichen Akzent des Südens den Wertverfall von Walnussbäumen bedauert. Vor vielen Jahren habe ich einige Dokumentarfilme von Raymond Dépardon im Kino sehen können, über seine Arbeit als Magnum-Fotojournalist in Krisen- und Kriegsgebieten, über den Alltag in einer Polizeiwache, im Gericht und einer psychiatrischen Notaufnahme, also »Fait divers« (1983), »Urgences« (1988), »Les Années declic (1984), »Délits flagrants« (1994). Seither bin ich ein Fan dieses großartigen Dokumentarfilmers, und gerne sähe ich mir mehr seiner fast 50 Filme an, etwa »Paris« (1998), »Les Habitants« (2016), den lange verbotenen über den Wahlkampf von Präsident Giscard d’Estaing (1974), die drei Filme der »Profils paysans« und alle neueren. Vermutlich liegt es an Depardon, dass ich so gerne Dokumentarfilme anschaue.
Die Intelligenz der Bäume: Wer es nicht nach Paris in die Ausstellung schafft (noch bis zum 10. November 2019, verlängert bis zum 5. Januar 2020), kann sich zumindest die Videos auf der Website ansehen (englisch untertitelt). Ganz bewusst räumen die drei Kuratoren Bruce Albert, Hervé Chandès und Isabelle Gaudefroy den Bäumen im Ausstellungstitel die Subjektposition ein: Wir, die Bäume. Es geht zwar auch um Ökologie und Klimawandel, doch eher nicht aus anthropozentrischer Sicht: Im Mittelpunkt der faszinierenden Ausstellung stehen Bäume als lebende Organismen und ihr Stellenwert für Gegenwart und Zukunft. Bäume zählen zu den ältesten Lebewesen unseres Planeten – schon fast 400 Millionen Jahre sind sie auf der Erde vertreten, Menschen dagegen erst seit 300.000 Jahren. Das Leben der Bäume umfasst somit eine Zeitspanne, die weit über unsere Existenz und Erfahrung hinausreicht. Lange Zeit galten Bäume – wie eigentlich alle Pflanzen – sozusagen als »minderbemittelt«. Doch Bäume haben offensichtlich ganz unerwartete Fähigkeiten wie etwa Erinnerungsvermögen und Kommunikationsfähigkeiten. Neuere Forschungen der Neurobiologie belegen eine »pflanzliche Intelligenz« und unterstreichen die Bedeutung einer anderen Betrachtung der Vegetation.
In der TAZ hat Brigitte Werneburg die interdisziplinäre Ausstellung treffend als »gelehrt und gedankenreich, dabei gerne ein bisschen exzentrisch und auf intelligente Weise populär« charakterisiert, die ihre Besucher auch gerne mal überfordert. »Die Art und Weise, wie bei ›Nous les arbres‹ Künstler und Botaniker, Architekten, Mathematiker und Philosophen zusammenkommen, ermöglicht es den Ausstellungsmachern, die Wahrnehmung ihres Publikums auf sehr komplexe Weise anzuregen.«
Fondation Cartier, 261 Boulevard Raspail, 75014 Paris, Métro: Raspail, Di 11–22, Mi–So 11–20 Uhr, Eintritt 10,50 €
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Dokumentarfilm »Intelligente Bäume« (2017): www.intelligent-trees.com/de/