ABSCHIED VON WEM? HEINZ BUDE ÜBER BOOMER
GASTBEITRAG VON DR. CHRISTOPH FISCHER: Mich hat es schon immer eher gestört, irgendwelchen Großgruppen zugerechnet zu werden. Andererseits ist es auch nicht schlecht, sich über bestimmte Konstellationen in der Gesellschaft zu freuen und mit den Handelnden in dieser Konstellation solidarisieren zu können. Dennoch ist der Versuch von Heinz Bude, seine Generation mit dem »Abschied von den Boomern« durchgängig zu identifizieren, auch nicht mehr als ein Versuch. Schlüssig argumentiert zweifelsfrei, aber für mich, Jahrgang 1955, doch allzu griffig aus Budes West-Berliner Blase argumentiert, als dass es mich in jeder Hinsicht überzeugen könnte.
Erfreulich, Bude macht das sofort klar, sein »Einmarsch« nach Berlin, der »Frontstadt der Systemkonfrontation, um dem Bund zu entgehen oder um sich auszuprobieren«. Wir anderen Boomer blieben im Sauerland, ließen uns mustern und verweigerten danach den Dienst an der Waffe. Heiner Müller beschäftigte mich nicht, eher schon Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Für mich war es schon Abenteuer genug, mich in Olpe der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands anzuschließen, wenn im Landstrich im Süden von Westfalen fast 70 Prozent der Menschen bei Bundestagswahlen ihr Kreuz bei der CDU machten. Auch mein nationalsozialistisch geprägter Vater, dem bei jedem Abspielen der deutschen Nationalhymne die Tränen in die Augen stiegen.
Die SPD sorgte für meinen Abschied aus dem Ministrantendasein und schuf eine neue Solidarität mit den jungsozialistischen Freundinnen und Freunden. Ansonsten gab es für mich von morgens bis abends den Sport. Für Bude war das offenbar nichts. Auch meine frühen Prägungen sind anders verlaufen als bei ihm. Macht ja nichts, aber wir haben uns vollkommen anders entwickelt. Bude lebte fröhlich auf seiner Westberliner Insel, ließ sich davon prägen, und wir hörten zuhause nur: Wenn es dir hier nicht gefällt, dann geh doch in die DDR. Die Eltern drohten damit, wären aber vermutlich daran zerbrochen, wenn man es wirklich getan hätte. Was es nicht gab, da argumentiert Bude richtig, es gab nicht »die auf die Veränderung der gesamten Gesellschaft« zielende definierte Bewegung.
Das störte uns Boomer aus dem Sauerland aber nicht, wir wussten ja auch noch gar nichts davon, dass wir »Boomer« werden sollten. Wir wollten nur weg aus dem Sauerland, mussten aber warten, bis das Abitur geschafft war. Richtig gefunden habe ich mich bei Budes Kapitel »Kulenkampff, Willy Brandt und die RAF«. Natürlich wussten wir, dass Butler Martin Jente, der Kulenkampff nach dem Ende der Vorstellung in den Mantel half, SS-Hauptscharführer und Adjutant im Führerhauptquartier gewesen war, wichtig waren für uns andere Dinge. Nachts Plakate zu kleben, auf denen die Vergesellschaftung der Banken gefordert wurde, um ein Gegengewicht zu schaffen zu CDU-Plakaten, die wochenlang unbehelligt am Schulportal klebten. Unsere Plakate musste der Hausmeister schon am nächsten Tag abreißen – und trotzdem war es ein Sieg. Genug davon.
Gewalt lehnten wir ab, die RAF war ein Thema, aber es war nicht unseres. Ich weiß noch, wie 1977, nach der Entführung von Hanns-Martin Schleyer, die Polizisten mit Maschinengewehren an der Tür meines Zimmers im Studentenwohnheim in Köln anklopften und wie mich das wochenlang beschäftigte. Ich flüchtete in den Sport und die journalistische Arbeit in einer Lokalredaktion.
Brokdorf, Aids und Tschernobyl nahm ich als Berichterstattungsgegenstand wahr, aktiv auf die Straße ging ich, als wir uns im Sternmarsch auf den Bonner Hofgarten zubewegten und ich das Gefühl der Solidarität spürte, das mich bis zum heutigen Tag begleitet. Es ist ein gutes Gefühl, an der Seite von Willy Brandt und Heinrich Böll protestiert zu haben. Und natürlich liebe ich den »klassenindifferenten Zuschauersport des Fußballs« bis zum heutigen Tag, nicht nur weil es mein Beruf ist, sondern weil ich daran glaube, dass es nach Meinung von Budes Kollegen in der Soziologie einer der wenigen »schichtenübergreifenden Gesprächsstoffe« ist, die uns geblieben sind. Mit Yoga und Body Building habe ich dagegen nichts am Hut, das scheint eher die Westberliner Blase von Bude beschäftigt zu haben.
Ich habe sein Buch mit großem Interesse gelesen, es war unterhaltsam, aber es überzeugt mich nicht. Dass sich am Ende alles findet beim Abschied von den Eltern, nun gut, so sollte es vielleicht sein, aber dafür war mein persönliches Verhältnis zu Vater und Mutter zu belastet. Und mein Vater ist viel zu früh gestorben, um mich intensiver auseinandersetzen zu können. Er hätte auch bei einem längeren Leben vermutlich nichts erzählt.
»Wirkungswille ohne Letztbegründung«, meine Formel für die Zukunft ist das jedenfalls nicht. Und wenn ich ein »Boomer« bin, auch gut, aber es beschäftigt mich nicht wirklich.