WASSERLITERATUR: BÜCHER ZUR FASZINATION DES SCHWIMMENS
Je peux pas, j’ai piscine: Wasser übt eine eigentümliche Faszination auf uns Menschen aus – schon der Blick auf bewegtes Meer oder die glatte Fläche eines Sees wirkt meditativ, inspiriert zu Poesie und Prosa, sorgt für Entspannung und Erholung. Um vieles mehr gilt diese befreiende Wirkung für all jene sportlichen Zeitgenossen, die das Wasser als ihr Element betrachten und sich darin geborgen fühlen wie Fische. Schwerelosigkeit, erfrischende Kühle und körperliche Bewegung ganz bei sich, konzentriert und gelöst zugleich, hellen das Gemüt auf und regen die Gehirnzellen an – Baden hat damit nur begrenzt zu tun. Auch wenn beides Beglückung und Lebensfreude geben mag, den magischen Sog des Wassers spüren vor allem echte Schwimmer, für die ihr Tun weniger eine Frage des Willens als der Notwendigkeit ist. Einmal im Flow, hört das Hirn auf, um To-do-Listen und Termine zu kreisen, die Bewegung wird reine Freude… Ich träume davon, wenn ich zu lange nicht schwimmen war, Albträume, in denen das Wasser abgelassen wird, gerade wenn ich endlich ins Becken steige, oder die Bahn sich derart füllt, dass kein Kraulzug mehr möglich ist. »Wer einmal infiziert ist vom Bahnen-Ziehen, von den Bewegungen, die das Wasser teilen und den Körper vorankommen lassen, der wird diese Bewegungen auch nicht mehr los.« (Leanne Shapton)
Bücher zum Eintauchen: Der Langstreckenschwimmer, Dramaturg und Autor John von Düffel hat seinem Element gleich mehrfach Bücher gewidmet, wenn nicht sogar die neue Gattung der Wasserliteratur geschaffen. Ob romanhaft oder in Essays und Geschichten: Viele seiner Bücher handeln »Vom Wasser« oder vom »Schwimmen«. Und obwohl er die Mühen des Kampfs um die eigene Bahn, die Duftwolken im Kielwasser alter Damen, den Chlorgeruch und Dauerlärm der stickigen Hallenbäder nicht verschweigt, überwiegen doch die beglückenden Momente – das erste Mal im Freibad nach einem langen Winter, das Schwimmen unter herabprasselnden Regentropfen, das Rheinschwimmen bei Basel, Wasser, das einen umfließt wie eine zweite Haut, die »Wassergleichheit«, die sich auf der Langstrecke einstellt, wenn »sämtliche Bewegungen sich aufzulösen scheinen in der fließenden Geschmeidigkeit des Elements«. Schwimmen kann durchaus ein Ausgleich bei Stress und Ärger sein, eine meditative Übung fürs seelische Gleichgewicht, schreibt John von Düffel, doch faszinierend wird Schwimmen dadurch, dass es die »sinnlichste, unmittelbarste, umfassendste Art ist, dem Wasser nah zu sein, hautnah.«
John von Düffel: Gebrauchsanweisung fürs Schwimmen, erschienen im Piper Verlag, München Berlin 2016
Wasser und andere Welten, erschienen im DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln 2002
Schwimmen. Kleine Philosophie der Passionen, erschienen bei DTV, München 2000
Bahnen ziehen: »Die Stunde zwischen vier und fünf Uhr morgens ist grauenvoll, vor allem im tiefsten kanadischen Winter. Zu wissen, dass ich in kaltes, überchlortes Wasser springen und zwei Stunden gnadenlosen Muskelschmerz aushalten muss, macht es noch schlimmer.« Ein junges Mädchen beim Erwachsenwerden und auf dem Sprung zum großen Traum: Teil des kanadischen Olympia-Teams zu werden. Der Rhythmus von Morgen- und Nachmittagstrainings, Einmalrasierer, Schwimmbrillen und Stoppuhr, Sportlerappetit und Müdigkeit, Ehrgeiz und Disziplin, Trainingslager und Wettkämpfe bestimmen den Alltag – Bahn um Bahn. Zwanzig Jahre später geht die einstige Leistungsschwimmerin Leanne Shapton ihren Erinnerungen an die aktive Zeit aus vielen Blickwinkeln nach, selbst Gerüche tauchen wieder auf. Shapton hatte mit 18 Jahren ihre sportlichen Ambitionen aufgegeben, doch nach wie vor träumt sie von Training und Wettkämpfen. »Wenn ich heute schwimme, steige ich ins Wasser, als würde ich unbewusst eine alte Narbe berühren.« Die Publizistin, Verlegerin und Illustratorin gab dem autobiografischen Buch eigene Zeichnungen bei und eine Reihe von Fotos ihrer Badeanzüge – ein schön ausgestatteter Band.
Leanne Shapton: Bahnen ziehen, aus dem Amerikanischen von Sophie Zeit, erschienen im Suhrkamp Verlag, Berlin 2012
Beckenrandlektüre: Dem Schwimmen hat Gisela Linder eine Auswahl an Texten und Bildern gewidmet, und sie hat lesenswerte Fundstücke zusammengetragen, von Bert Brecht, Alfred Döblin und Joachim Ringelnatz bis zu Martin Walser, für den Schwimmen »ein körperliches Nachdenken« ist. Ebenfalls nicht fehlen in dieser Wasserblütenlese darf Eduard von Keyserling mit einer Passage aus den »Wellen«: »Sie begann zu schwimmen, ein unendliches Wohlbehagen durchrieselte ihren Körper.«
Gisela Linder, Schwimmen, erschienen im Insel-Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 1999
»Schweben ohne Absturzgefahr«: Alle die, die es wie mich stört, dass außer Marie Luise Kaschnitz nur zwei weitere Autorinnen in die Anthologie des Insel-Verlags aufgenommen wurden, greifen besser zu dem von Irene Ferchl herausgegebenen Band »Auf einem Badesteg. Schriftstellerinnen am See.« Zwar geht es darin, wie der Titel schon klarstellt, nicht ausschließlich ums Schwimmen, sondern um den See als literarischen Ort, doch neben Zsuzsa Bánk, Vicki Baum, Elfriede Jelinek, Margaret Atwood, Annette von Droste-Hülshoff und anderen Autorinnen kommen hier auch Schwimmerinnen zu Wort wie Katharina Hagena: »Immer wenn ich schwamm, fühlte ich mich in Sicherheit.« Die Ich-Erzählerin schwimmt nicht schön, aber zügig und sicher, und sie liebt den Moment des Sichverlassens darauf, dass das Wasser sie trägt.
Irene Ferchl (Hg.), Auf einem Badesteg. Schriftstellerinnen am See, erschienen im AvivA Verlag, Berlin 2009
Wasserratten und Fische an Land: Nicht alle Schwimmbücher stammen von Menschen, die kämpferischer Ehrgeiz antreibt, oder von Extremschwimmern wie Lynne Cox, die als »Eismeerschwimmerin« von sich reden machte. Die Autorin Lynn Sherr begann nach einer Knieverletzung mit dem Schwimmen, doch bald ist jenseits aller Reha ihr Ehrgeiz erwacht: Wie der englische Dichter Lord Byron, der 1810 die Meerenge Hellespont zwischen Europa und Asien durchschwamm, will auch Lynn Sherr die Strecke schaffen. Ihr Training dafür ist der Rahmen, der »Liebe zum Wasser« nachzugehen, mit Forschern, Sportlern und Trainern zu sprechen. In Interviews und mit Recherchen zum Schwimmen fördert die Journalistin Historisches und Kurioses zutage – über Schwimmstile und Bademoden, olympische Wettkämpfe und Freiwasserschwimmen, Rassismus und Rettungsschwimmer. Ein Schwimmbuch, das die Lust schürt, sich sofort in die Fluten zu stürzen. Und schließlich, am Ende dieser ganz persönlichen Kultur- und Sportgeschichte, hat Sherr es geschafft: 1 Stunde, 24 Minuten, 16 Sekunden hat sie für die Durchquerung des Hellesponts benötigt. Ein mit vielen Abbildungen und netten Details wie der kleinen Schwimmerin als Fußzeile gestalteter Band!
Lynn Sherr: Swim. Über unsere Liebe zum Wasser, aus dem Englischen von Andreas Simon dos Santos, erschienen im Verlag Haffmanns und Tolkemitt, Berlin 2013
Legendäre und exzentrische Schwimmer: Etwas akademischer kommt die »Kulturgeschichte des Schwimmens« daher. Doch auch der britische Autor Charles Sprawson durchschwamm zusammen mit seiner Tochter den Hellespont, und mit der Leidenschaft eines Schwimmers macht er sich auf zur Spurensuche durch die Jahrhunderte, trifft lesend auf britische Kanalschwimmer und antike Heroen, schwimmende Samurai, Hollywoodstars und deutsche Romantiker, spürt litarische Schwimmerlebnisse und aquatische Wahlverwandschaften auf.
Charles Sprawson, Ich nehme dich auf meinen Rücken, vermähle dich dem Ozean. Die Kulturgeschichte des Schwimmens, aus dem Englischen von John von Düffel und Peter von Düffel, marebuchverlag, Hamburg 2002
Demnächst ausführlicher in einem eigenen Blogbeitrag: Paul Morand, Aufzeichnungen eines notorischen Schwimmers (Bains de mer, bains de rêve, 1960).
Außerdem enthält No. 38 der Zeitschrift Mare diverse Beiträge zum Schwerpunkt »Schwimmen« (Juni/Juli 2003).