ROBERT WALSER: SPAZIEREN MUSS ICH UNBEDINGT
»Ohne Spazieren wäre ich tot«: Gerade komme ich von einem Winterspaziergang in den Montafoner Alpen zurück. Neben einem munter rauschenden Bächlein ging es bei strahlender Sonne und blauem Himmel durch feuchte Wiesen mit Blick auf schneebedeckte Gipfel, um 12 Uhr mittags begleitet vom Klang der Sonntagsglocken. Wie gut passte es da, dass ich gerade den 1917 erschienenen Text »Sonntag« von Robert Walser gelesen hatte, in dem der Ich-Erzähler »den Sonntag und sein liebes Freudengeläute, dieses wie vom Himmel herabströmende Tönen« auf sich einwirken lässt und aufmerksam dem Glockenton lauscht, dem »immer grünen, ewig schönen Klang«. Wer die Textsammlung »Spazieren muss ich unbedingt« liest, ist gehend gleich wacher unterwegs, achtet gespannter auf Töne, Farben, Düfte, Licht, Einzelheiten…
Gehen über Stadt und Land: Walser ist »ein lebhafter Freund tagelangen, meilenweiten Herumschlenderns und Marschierens«, er verbindet die Freude am Gehen, Spazieren, Wandern mit der Liebe zur Natur. Zwar heißt es an einer Stelle in »Herbstnachmittag«: »Ich hatte nicht Augen genug, um anzuschauen, was es alles anzuschauen gab, und nicht Ohr genug, um auf alles zu horchen.« Doch tatsächlich widerlegt der Schweizer Autor mit seinen Momentaufnahmen, Feuilletons und kleinen Prosastücken die eigene Einschätzung – als genauer Beobachter und stilistisch unverwechselbar beschreibt er Landschaft nie nur als Gemälde (auch wenn Susan Sontag den Schriftsteller in einem Vorwort zu einer englischen Übersetzung als »Paul Klee der Prosa« bezeichnete), sondern samt Tönen, Düften und vielfältigen Impressionen, widmet dem Nebel, der Abenddämmerung und der nächtlichen Dunkelheit, der Stille und sonntäglicher Beschaulichkeit, dem Äpfelgeruch und der frischen Herbstluft seine Aufmerksamkeit. Das Gehen ist für Walser mehr als ein bloßer Zeitvertreib, mehr auch als eine persönliche Passion, sondern zugleich literarisches Thema, Mittel zur Erfahrung der Welt, Abhilfe gegen Unrast und kreatives Stimulans angesichts einer Schreibhemmung vor dem leeren Blatt Papier. Seit seiner Jugend unternahm Walser lange Fußtouren, selbst Nachtwanderungen, große Entfernungen und Gewaltmärsche scheute er nicht, das Gehen ist existenziell für ihn. Ohne Spazieren, heißt es in einer zentralen Stelle in »Der Spaziergang« (1917), könne er »nicht den winzigsten Aufsatz, geschweige denn eine ganze lange Novelle verfassen«.
Kein Kitschverdacht: Robert Walser (1878–1956) gilt heute als bedeutender Autor der literarischen Moderne, Zeitgenossen wie Christian Morgenstern, Kurt Tucholsky, Robert Musil bewunderten seine Prosa. Oft sind die beschriebenen Natureindrücke voller Staunen, Bewunderung oder Ehrfurcht. Gerade das Schwärmerische und Stimmungsvolle in Walsers literarischem Umherstreifen liest man unter dem Blickwinkel des gerade populären ›Nature Writing‹ mit neuem Interesse. Was es heißt, sich der Wahrnehmung zu öffnen, zeigt mir als Schwimmerin am eindrücklichsten eine Stelle in Walsers bekanntestem Roman »Der Gehülfe« (1908): Joseph nimmt seine Badehose, geht durch den Garten zum See hinunter und wirft sich ins Wasser. »Er schwamm weit hinaus, es war ihm so wohl zumute.« Das Wasser ist frisch und lau, ein leiser Windhauch streicht darüber. Weich fühlt sich das »nasse, saubere, gütige Element« an. »Den Kopf taucht man, um den Übermut in der Brust zu bewässern, auf kurze Zeit den Atem und den Mund und die Augen zudrückend, hinab um am ganzen Leib dieses Entzückende zu spüren. Schwimmend möchte man schreien, oder nur rufen, oder nur lachen, oder nur etwas sagen, und man tut’s auch. […] Man plätschert mit den Händen und Füßen, steht im Wasser schwebend und trapezturnend, möchte man sagen, aufrecht, immer dazu die Arme bewegend. […] Wie herrlich das war!«
Robert Walser, »Spazieren muß ich unbedingt«. Vom Gehen über Stadt und Land, hrsg. von Reto Sorg, Insel Verlag, Berlin 2024
Robert Walser, Der Gehülfe, hrsg. von Jochen Greven, Suhrkamp Verlag, meine Ausgabe erschien in der Bibliothek Suhrkamp, heute lieferbar ist ein Taschenbuch