TYPOTRAVELETTE UNTERWEGS: DICKE SCHRIFT UND ART-DÉCO IN PARIS
Ein starker Auftritt: Dick und massiv sind sie oft, die Schriften für Läden und Logos, Poster und großformatige Ankündigungen. »Typografie zieht Texte an – passend zu Aussage und Anlass, mal Jeans, mal das kleine Schwarze.« (John D. Berry). Dicke Schrift, die niemand übersehen kann, ist dann sozusagen der Fatsuit unter den typografischen Kostümen: Üppige, raumgreifende Typografie zieht alle Blicke auf sich, breite Fonts, die »fett rüberkommen«, setzen als Eyecatcher Botschaften oder kurze Headlines wirkungsvoll in Szene. Wer Typo für plakative Wirkung sucht, kann bei einigen Schriftfamilien auf eine Expanded-Version zugreifen. Eigentlich ist mit »Dicker Schrift« aber keineswegs einfach nur die Bold- oder Extra-Bold-Schriftstärke gemeint, sondern ein Hingucker-Font, der insgesamt laut und fett auftritt und ganz gezielt gestaltet wurde, um für Aufmerksamkeit zu sorgen. Manchmal bleibt der typografische »Fettanzug« auch aus etwas größerer Entfernung noch lesbar – manchmal führt er zu grotesken Ergebnissen, einem unharmonisch wirkenden, schwer lesbaren und unschönen Schriftbild. Der rote Schriftzug der Charcuterie CORNIQUEL im Viertel Menilmontant dagegen gefällt offensichtlich so gut, dass er auch erhalten wurde, obwohl längst eine Weinhandlung in die Räume der Metzgerei einzog. Für PAPIER am Montmartre und die Ghostsigns der PAPETERIE im 9. Arrondissement gilt das hoffentlich auch.
Auffallen! Die adipösen Buchstaben der Archives Nationales stehen solide und massiv im Raum. Das enge Schriftbild, mit aufeinander gestapelten Buchstaben und extrem enger Laufweite erinnert an alte Film- und Reiseplakate (wenn ich richtig informiert bin: Entwurf von Ruedi Baur). Bei einem Monospace Font ist im Gegensatz zu proportionalen Schriften die Breite (Dickte) aller Buchstaben gleich. Bei dicktengleiche Schriften, auch Festbreitenschriften genannt, gibt es zwar immer einige Buchstaben, die nicht gut funktionieren, aber im Zusammenhang kurzer Worte oder eines Logos ohne Probleme erfasst werden könnten.
Starke Kontraste: Was die meisten dieser in Paris fotografierten Typobeispiele so markant macht, ist der ausgeprägte Wechsel der Strichstärke. Die Schriftstärke bezeichnet in der Makrotypografie die Gesamtheit einer Schrift, die Strichstärke in der Mikrotypografie ein Detail eines Buchstabens. Gleichmäßige oder konstante Strichstärken, also wenig Strichstärkenkontrast innerhalb einzelner Buchstaben, sorgen für ein ruhiges Schriftbild. In Paris fällt auf, dass viele Beschriftungen sich nicht für einen Font mit durchgehend dicker Strichstärke entscheiden, sondern für variable Strichstärken – also für eine Kombination von sehr breiten mit sehr feinen Linien (beispielsweise in beiden Schriftzügen COIFFURE). Bei den Großbuchstaben A und V wird dies besonders deutlich: Aufstriche sind dünn, Abstriche dick – eine Regel aus der Kalligrafie – oder umgekehrt.
Art-Déco: Die spektakuläre Variation von dicken und dünnen Linien wirkt elegant und erinnert an die glanzvolle Zeit und die starken Strichstärkenkontraste der 1920er- und 1930er-Jahre. Den mondänen Retro-Flair des Art-Déco verbreiten zudem sehr hoch oder sehr tief angesetzte Mittelstriche (wie bei der EPICERIE CONFISERIE, der CREMERIE und PAPIER +). Auch die geraden Innenkanten der eigentlich gerundeten Bogen von O und C (Beispiele EPICERIE CONFISERIE, BOUCHERIE und LA ROTONDE) gab es schon in der Ära des Art-Déco – etwa in dem 1927 von Morris Fuller Benton gestalteten und noch heute verwendeten Font »Broadway« oder der im selben Jahr von Oswald Bruce Cooper entwickelten Schrift »Boul Mich«. Eine moderne Variante dieser Vorliebe der Art-Déco-Typografie für geometrische Gestaltungselemente ist der Font Cormier. Dass auf Serifen verzichtet wird, lässt die Schriftzüge dennoch modern wirken. Die Schrift der BOUCHERIE könnte »Gangue Ouais« sein, die ein kanadischer Designer gestaltete (und den albernen Namen als Gangway mit französischem Akzent ausgesprochen wissen möchte). Eine echte Art-Déco-Schrift tragen vielleicht die Folies Bergères mit eigenwilligen Buchstaben wie dem S und kurzen Oberlängen.