TYPISCH FRANKREICH: BAGUETTE
Noch vor der Morgendämmerung ist Arbeitsbeginn in der Backstube, um den vorbereiteten Teig, der über Nacht ruhen durfte, in den Ofen zu schieben. Kunden, die dann in aller Frühe mit einem oder mehreren frischen Baguettes aus der Boulangerie auf die Straße treten, kann man oft dabei beobachten, dass sie ein Stück vom warmen Weißbrot abbrechen und in den Mund schieben – der Duft von frisch gebackenem Brot ist einfach zu verlockend. Für den Schriftsteller Philippe Delerm zählt dies zu den »plaisirs minuscules«*, den kleinen Glücksmomenten im Leben. Seiner krossen goldbraunen Knusprigkeit und der luftigen hellen Krume verdankt das Baguette seine Popularität. Kein Frühstück ohne dieses typische Stangenweißbrot, das auch zu allen anderen Mahlzeiten gereicht wird, es ist Teil des französischen Alltags. Dass Bäcker in Frankreich »nur« bis 22 Uhr und dann »erst« wieder ab 4 Uhr arbeiten dürfen (seit einem entsprechenden Gesetz aus dem Jahr 1919), gilt als eine Erklärung für die Erfindung des Baguette – es benötigt eine geringere Backzeit als kompakte runde Brote.
Denn die Berufsbezeichnung »boulanger« leitet sich von »boule« (Kugel) ab – die Bäcker rollten ihren Teig zu Kugeln. Schlanke, längliche Brotformen kamen erst spät auf, der Name Baguette sogar erst im 20. Jahrhundert. Wahrscheinlich darf man es eher in das Reich der Legenden verweisen, dass die Bäcker Napoleons die längliche Form wählten, um das Brot auf Feldzügen leichter transportierbar zu machen. Weniger gern wird auch die Version geglaubt, das Baguette sei in Wien erfunden und im 19. Jahrhundert von einem österreichischen Bäcker in Paris eingeführt worden. Eigentlich liegt der Ursprung von Baguette de facto im Dunkeln.
Heute ist das Baguette diversifiziert – neben der üblichen etwa 250 Gramm schweren Stange, die um 65 Zentimeter lang ist und traditionell genau fünf Mal eingekerbt wird, stehen »ficelle« (dünner und leichter, um 125 Gramm Gewicht) und »flûte« (dicker und schwerer, um 400 Gramm) in den Regalen der Bäckereien. Franzosen verspeisen zwar nur 120 Gramm Brot pro Tag (im Vergleich zu den 238 Gramm in Deutschland), doch jedes dritte verkaufte Brot ist ein Baguette – 30 Millionen sollen es täglich sein, unfassbare 10 Milliarden im Jahr, obwohl inzwischen auch in Frankreich »pain de campagne« (Landbrot), mit »céréales« (Körnerbrot) und »pain de seigle« (Roggenbrot) als gesünder gelten und auch immer öfter nach »bio« gefragt wird.
Für ein gutes Brot braucht es nicht viel – Weizenmehl, Wasser, Salz und ein Triebmittel wie Hefe oder Sauerteig. Doch warum sind dann die Unterschiede so groß? Ein pappig schmeckendes Baguette wurde wahrscheinlich aus Fertigteig hergestellt, und auch die in Zellophanfolie eingeschweißten Supermarktbrote können mit der Knusprigkeit von frisch gebackenem Baguette nicht konkurrieren. Schon 1993 erließ der damalige Premierminister Edouard Balladur ein »Décret pain«, um auf die beklagenswerte Qualität von Brot aus industrieller Fertigung zu reagieren und die handwerklich arbeitenden Bäcker gegenüber der Supermarktkonkurrenz zu schützen. Dank dem Weißbrotgesetz muss seither ein »Baguette de tradition« dort in der Backstube hergestellt sein, wo es auch verkauft wird, es darf kein Tiefkühlprodukt sein, der Bäcker muss Mehl von hoher Qualität verwenden, den Teig langsam kneten und ihm Ruhepausen gönnen.
Bei der Wahl zum besten Baguette-Bäcker, dem »Concours de la meilleure baguette de tradition française«, werden Kruste und Krume begutachtet, Geschmack, Duft und das Garen bewertet. Und auch Paris kürt alljährlich (seit 1994) die zehn besten Bäcker der Hauptstadt. Der erste Preis beim »Grand Prix de la Baguette de la Ville de Paris« wird außer mit 4000 Euro Preisgeld auch mit einem Ein-Jahres-Auftrag für die Belieferung des Rathauses belohnt. 2023 gewann Tharshan Selvarajah den Wettbewerb, Bäcker im »Au Levain des Pyrénées« (44 rue des Pyrénées, 20. Arrondissement). Neben dem Lieferauftrag für die Oberbürgermeisterin Anne Hidalgo bedeutet das auch für eine ganze Weile deutlich mehr Umsatz: Der frühere Sieger Fabrice Leroy (Boulangerie Leroy Monti, 12. Arrondissement) verkaufte 1200 Baguettes pro Tag statt 200 wie vor seiner Auszeichnung. Wer beim nächsten Paris-Besuch den Geschmackstest machen will, besucht die dieses Jahr ausgezeichnete Boulangerie. Oder spaziert durch die belebte Rue des Abbesses in Halbhöhenlage am Montmartre – dort heimsten gleich zwei Bäcker in verschiedenen Jahren die Siegermedaille im Concours ein.
Wohl in keinem anderen Land wurde ein alltägliches Lebensmittel wie Brot zum Symbol der ganzen Nation. Während es im Rest der Welt als typisch französisch gilt, ist das Baguette aus Sicht der Franzosen allerdings eine Pariser Spezialität. Und so heißt das meist verzehrte Sandwich in Frankreich, ein halbes Baguette mit Butter und gekochtem Schinken (»jambon–beurre«), auch »Le Parisien«. Nachdem die deutsche Brotkultur von der Unesco bereits zum immateriellen Weltkulturerbe erklärt wurde, wollte auch Frankreich das Baguette anerkannt wissen – über den 2018 gestellten Antrag wurde im Herbst 2022 positiv entschieden.
* (Ein Croissant am Morgen. Das kleine große Buch der Lebenskunst, 1997 in Frankreich erschienen unter dem Titel »La première gorgée de bière et autres plaisirs minuscules«, stand 100 Wochen auf der Bestsellerliste)