THEA STERNHEIM: DIE PARISER JAHRE

Exil in Frankreich: Schon 1932, bereits vor der Machtübernahme Hitlers, ging die hellsichtige Thea Sternheim angesichts der politischen Entwicklungen und der »vergifteten Atmosphäre des Nazismus« (23. Januar 1932) nach Paris und blieb dort fast dreißig Jahre im Exil. Nach zwanzig Jahren Ehe vom Dramatiker Carl Sternheim geschieden, hatte ihr eine Erbschaft finanzielle Unabhängigkeit verschafft, auch war sie weder Jüdin noch politisch bedroht. Zunächst geht es in den Tagebüchern vor allem um die bedrohlichen Nachrichten aus Deutschland – »man stürzt sich auf jede frischgedruckte Zeitung« (23. August 1932). Sowie um Begegnungen mit Zeitgenossen und Freunden wie André Gide, René Crevel, Julien Green, Annette Kolb, Max Ernst, Heinrich Mann oder Joseph Roth, um Korrespondenzen und Lektüren, wie auch viel um ihr Verhältnis zu den erwachsenen Kinder Nucki (Agnes), Klaus und Mopsa (Dorothea). Sie beobachtet und kommentiert, zieht mit wachem Gespür ihre Schlüsse und urteilt durchaus scharf über ihre Zeitgenossen. Später kommen auch Geldnöte hinzu, als es immer schwieriger wird, Kapital aus Deutschland zu transferieren und Zahlungen für Verkäufe wertvoller Gemälde ausbleiben. Im von Deutschland besetzten Frankreich, in Paris im Kriegszustand, werden dann auch Aufenthaltsgenehmigungen und Passverlängerungen erschwert.

Im Juni in der Anderen Bibliothek erschienen: Fast sieben Jahrzehnte lang führte Thea Sternheim (1883–1971) ihr Tagebuch, ein in rund 30.000 handschriftlichen Seiten nahezu lückenlos dokumentiertes Leben. Eine umfangreiche Ausgabe in fünf Bänden (die etwa ein Drittel der Aufzeichnungen enthält) dieser Chronik des 20. Jahrhunderts erschien im Wallstein Verlag. Herausgeber Thomas Ehrsam stellte für den in der Anderen Bibliothek veröffentlichten Auswahlband Auszüge aus den Jahren 1932 bis 1949 zusammen. Als junge Frau von 21 Jahren begann Thea Sternheim mit den Aufzeichnungen, fast ausnahmslos täglich, selbst unter schwierigen Bedingungen, etwa in zwei Kriegen. Es bleibt rätselhaft, wie sie die Disziplin sogar im Camp de Gurs aufbringt, in dem sie im Juni 1940 interniert wird. In dieses Lager in den Pyrenäen wurden »feindliche Ausländerinnen« gebracht, auch deutsche Emigrantinnen und Gegnerinnen des Nationalsozialismus, und unterschiedlich lange festgehalten. Thea Sternheim erhielt nach rund zwei Monaten im August ihren Freilassungsschein und kehrte über Nizza zurück ins besetzte Paris.

Besatzung und Widerstand: Über die Judenverfolgungen sind häufig Einträge im Tagebuch zu lesen, das Thema beschäftigt und bedrückt Thea Sternheim ebenso wie die Meldungen über Selbstmorde Bekannter. Von Mitleid mit den Opfern ist viel die Rede, von tätiger Hilfe kein Wort, doch dürfte man dies im besetzten Paris vermutlich wohlweislich nicht seinem Tagebuch anvertraut haben. »Aber mein Gott, was kann man tun?«, schreibt sie am 13. Februar 1943, häufig auch die Formulierung, sie sei wie auf den Kopf geschlagen und unfähig zu Entscheidungen. Als ihre Tochter Mopsa im Dezember 1943 von der Gestapo festgenommen und nach Deutschland deportiert wird, ist dem Tagebuch ebenfalls nicht zu entnehmen, ob Thea Sternheim mehr über die Gründe zu erfahren sucht (und wenn man Mopsas Tagebucheintrag folgt, zitiert im Kommentar zum 11. Juli 1945, äußerte sie sich sogar eher despektierlich). Vermutlich verstünde man den etwas hartleibigen, fast selbstgerechten Umgang mit Tochter und Sohn besser, würde man auch die vorherigen Tagebücher kennen. Jedenfalls scheint sie erst im Oktober 1944, so erläutert der Herausgeber, von Mopsas Tätigkeit in der Résistance erfahren zu haben, was Thea Sternheim zu der rhetorischen Frage bringt, wie könne man »es nur für richtig halten, für dergleichen Belange Freiheit und Leben einzusetzen?« (17. Oktober 1944). Als ihre Tochter Ende Juni 1945, Paris ist schon fast ein Jahr befreit, aus dem Konzentrationslager via Schweden zurückkehrt, fällt ihr nur auf, diese sei durch die schlechte Ernährung »enorm« geworden, ansonsten aber die »irgendwie unveränderte Mopsa«. Nach der Lektüre dieser 17 Jahre umfassenden Aufzeichnungen (auch dem Eintrag zum 28. September 1949 zu den »Nachstellungen« Carl Sternheims gegenüber der halbwüchsigen Tochter) ist einem Thea Sternheim nicht mehr sympathisch. Doch ihr Tagebuch bleibt ein lesenswertes Zeugnis zu den Zeitläuften und politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts.

 

Thea Sternheim, Die Pariser Jahre. Aus den Tagebüchern 1932–1949, Die Andere Bibliothek, Aufbau Verlage, Berlin 2024