RÉ SOUPAULT: REISETAGEBUCH UND ERINNERUNGEN
Überall Verwüstung: Fünf Wochen ist Ré Soupault 1951 im kriegszerstörten und besiegten Deutschland unterwegs, ein bedrückendes Erlebnis – »dieses traurige Land, diese traurigen Menschen, diese Ruinen«. Die frühere Bauhaus-Studentin hat schon als Fotografin und Modedesignerin in Paris gearbeitet, einige Jahre in Tunis gelebt, jetzt ist sie nach Ende des Zweiten Weltkriegs mittellos aus dem Exil in New York nach Europa zurückgekehrt. Sie muss sich Arbeit suchen und lotet dafür Berufsperspektiven als Übersetzerin und Rundfunkautorin in Deutschland aus. Unterwegs ist Ré Soupault mit dem Fahrrad, einem Vélosolex mit Hilfsmotor, mit dem sie von Basel über Trier, Stuttgart, München zum Bodensee rund 1500 Kilometer zurücklegt. Der Titel, den der Herausgeber Manfred Metzner, zugleich Nachlassverwalter Soupaults und Verleger des Wunderhorn Verlags, für das Reisetagebuch gewählt hat, stammt vom Aufenthalt in Stuttgart: »Ging später über die Höhen der Stadt. Überall Verwüstung. Abends Kino.« Neben der Armut, der »täglichen Jagd nach dem täglichen Stück Brot« und »der allgemeinen Geldnot«, den Trümmerlandschaften und dem Leben in Elendsbaracken gibt es aber auch schon wieder »dicke deutsche Familienväter« und bei einer Pressekonferenz im Rundfunk »etwa 30 Radiokritiker – alles sehr wohlgenährte und gut gekleidete Herren«, die die Runde mit Zigaretten- und Zigarrenrauch einnebeln.
Deutsche Mode in Paris: Anfang der 1920er-Jahre hatte Ré Soupault ein Studium am Weimarer Bauhaus begonnen, doch wie viele ihrer Kommilitoninnen landete sie in der Weberei-Klasse. Dennoch blieb sie lebenslang für das über Geometrie und räumliches Sehen im Bauhaus Gelernte und künstlerische Impulse dankbar. Ohne Abschluss ging sie nach einer kurzen Ehe und Tätigkeit Ende der 1920er-Jahre als Journalistin in Berlin nach Paris, wo sie ein Modeatelier gründete, zum Kreis der künstlerischen Avantgarde gehörte und zu dieser Zeit schon fotografierte. Die Modejournalistin Helen Hessel hat Anfang der 1930er-Jahre mindestens zwei Interviews mit ihrer deutschen Kollegin geführt, als diese »Ré Sport« eröffnet hatte, und berichtete über deren »soziale Prinzipien«: Ihr Ziel sei »das gutsitzende, praktische, von der Modelaune unabhängige Kleid aus besten Stoffen und so günstig, daß die Sekretärin oder das Dienstmädchen es sich von ihrem Lohn kaufen kann.« (Helen Hessel, Ich schreibe aus Paris. Über die Mode, das Leben und die Liebe, Nimbus 2014). Mies van der Rohe lieferte die Stahlmöbel mit weißem Leder für das Atelier in Montparnasse, das nach gutem Start mit vielen kühnen Ideen vom Hosenrock bis zum »Transformationskleid« schnell zur Herausforderung für Soupault wurde, weil der Geldgeber für das Mode-Start-up starb.
Im Exil: 1938 ging es mit ihrem zweiten Ehemann Philippe Soupault nach Tunis. Doch 1943, während des Zweiten Weltkriegs, musste das Ehepaar überstürzt vor den Nazis flüchten und in Nordafrika alles Hab und Gut zurücklassen, auch die Fotomaterialien von Ré Soupault. Ihre Rückkehr aus der Emigration, nach Basel und später nach Paris, war der Beginn eines langen, zumeist einsamen, von Geldnot begleiteten Versuchs, in Europa wieder Fuß zu fassen – ihr Ehemann hatte sie 1945 verlassen und war ohne sie nach Frankreich zurückgekehrt. Damals 50 Jahre alt, baut sie sich eine neue Existenz als literarische Übersetzerin auf, von Romain Rolland oder Lautréamont beispielsweise, und wird so Teil einer kulturell vermittelten Wiederannäherung zwischen den ehemaligen Gegnern Deutschland und Frankreich.
Später Ruhm: Mehr über Ré Soupaults Biografie erfährt die interessierte Leserin in ihren Erinnerungen, im Jahr 2018 erschienen im Verlag Das Wunderhorn unter dem Titel »Nur das Geistige zählt. Vom Bauhaus in die Welt«. Sie selbst hat dafür noch die Texte bearbeitet, vieles andere – Veröffentlichungen und Ausstellungen ihrer Fotos – kam erst posthum, Ré Soupault hat also nur noch wenig miterlebt von ihrer Jahrzehnte verspäteten Rezeption und öffentlichen Anerkennung. Die 1901 in Pommern als Meta Erna Niemeyer geborene Künstlerin starb 1996 – ihr Leben umfasst fast das gesamte 20. Jahrhundert. Auf gerade mal etwas mehr als 200 Seiten eilt sie in enormem Tempo und völlig unsentimental durch ihr Leben, das so voller dramatischer Verwicklungen, interessanter Begegnungen, privater Turbulenzen und historischer »Zeitenwenden« war. Über vieles, was nur in Momentaufnahmen aufblitzt, wüsste man gern mehr, oft beeindrucken Ré Soupaults Empathie und Beobachtungsgabe, immer wieder überrascht sie mit der Vorwegnahme späterer Kritik und äußerst reflektiertem Urteilsvermögen (»Überall Autos, sie parken überall, wo nur irgendwie Platz ist. Das Auto wird bald ein sehr lästiges Verkehrsmittel innerhalb der Städte werden. Die einzelnen Autos sind viel zu groß. Ein ganz undemokratisches Gefährt […]«). Ihre Erinnerungen und ihr Reisetagebuch zeigen die Autorin als neugierige, kluge und trotz ihrer prekären Situation nicht klagende Frau, die die Lösung von Problemen stets selbst in die Hand nimmt, und vermitteln einen atmosphärischen Eindruck jener Tage zwischen dem Ende des Ersten und des Zweiten Weltkriegs.
Ré Soupault, Überall Verwüstung. Abends Kino. Reisetagebuch 8.8.1951–15.10.1951, Hg. Manfred Metzner, Verlag Das Wunderhorn 2018
Ré Soupault, Nur das Geistige zählt. Vom Bauhaus in die Welt. Erinnerungen, Hg. Manfred Metzner, Verlag Das Wunderhorn 2018