PARISER INSELN: ILE SEGUIN

Patrimoine industriel: Es war nicht irgendeine Fabrik, die sechs Jahrzehnte lang auf der Ile Seguin stand. Wie ein Ozeandampfer, der mitten in der Seine Halt gemacht hatte, wirkte das langgezogene Gebäude aus den 1930er-Jahren auf der Insel, in das sogar eine unterirdische Teststrecke integriert war. Die Renault-Werke in Boulogne-Billancourt galten als »forteresse ouvrière«, als Bastion der Arbeiter und der Gewerkschaften, und vor allem in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg hieß es: »Quand Renault tousse, la France s’enrhume« – wenn Renault hustet, erkältet sich Frankreich. Mit rund 30.000 Arbeitern war das Stammwerk in einer Flussschlinge der Seine zeitweise die größte und modernste Fabrik Frankreichs, in der am 1,5 Kilometer langen Fließband Autos montiert wurden. Im Jahr 1992 verlagerte das Unternehmen die Produktion und schloss den Standort. Ab 2004, nach mehr als zehn Jahren Leerstand, wurden die Bauten abgerissen, obwohl das durchaus als die Zerstörung eines Mythos galt. Auch an das große, schon ab 1998 sukzessive aufgegebene Werksgelände am rechten Seine-Ufer erinnert kaum noch etwas. Die erhaltene Eingangsfront und die Werkssirene auf der Place Julien Guesde müssen durch eine Tafel erläutert werden, um noch als »patrimoine industriel«, als Industrie-Denkmal erkennbar zu sein.

Projektemacher: Dreißig Jahre nach Stilllegung des Autowerks ist noch immer die Hälfte der 11,5 Hektar umfassenden Insel Brache (dort sollen ein Luxushotel und ein Kunstzentrum entstehen) und die Pont Daydé, eine 1929 errichtete Stahlbrücke an der flussaufwärts gelegenen Inselspitze, nicht zugänglich. Zunächst hatte der Unternehmer François Pinault Begehrlichkeiten geäußert – er wollte hier gern ein Museum für seine Kunstsammlung errichten. Das Projekt zerschlug sich, weil dem Milliardär alles viel zu lang dauerte – kurzentschlossen entschied er sich für Venedig (bis die Stadt Paris ihm später die Handelsbörse mitten im Zentrum anbot, wo nach dem Umbau durch den japanischen Architekten Tadao Ando seit 2021 nun die Collection Pinault zu sehen ist). Das Departement Hauts-de-Seine, zu dem die Ile Seguin gehört, erwarb die Insel und die kommunale Verwaltung verfolgte eine Reihe unterschiedlicher, teils abenteuerlicher Ideen und »Masterpläne« für ihre Nutzung.

Seine Musicale: Letztendlich entstand das im April 2017 eingeweihte Musikzentrum »La Seine Musicale« auf der flussabwärts gelegenen Inselspitze. Von den Architekten Shigeru Ban und Jean de Gastines stammt der Entwurf für das markante gläserne »Ei«, das von einem beweglichen Fotovoltaik-Segel zugleich geschützt und mit Elektrizität versorgt wird. Dieses Auditorium mit 1150 Plätzen thront auf einem Unterbau, der an den einstigen »Fabrikdampfer« erinnern soll und dessen begrüntes Dach begehbar ist. Der dort neben Musikschule, Proberäumen und Tonstudios untergebrachte große Konzertsaal bietet (je nach Bestuhlung) 4000 bis 6000 Plätze. Die große Freitreppe zum Dachgarten hinauf schmückt ein Werk von Auguste Rodin, vor der Eingangsfront mit der riesigen Multimedialeinwand erinnert ein bronzener »Daumen« des Bildhauers César daran, dass hier auch mal ein Skulpturengarten geplant war (übrigens nicht das einzige Exemplar, seine berühmte Skulptur Le Pouce steht auch an der Côte d’Azur und in La Défense). Den Programmauftakt in der Eröffnungswoche vor fünf Jahren übernahm Bob Dylan, seither hat das Projekt nur noch Schlagzeilen gemacht, als Präsident Emmanuel Macron dorthin zum Klimagipfel »One Planet Summit« einlud. Doch wenn auch das Kunstzentrum auf der anderen Inselhälfte eröffnet hat, soll die Ile Seguin das neue kulturelle Flaggschiff der Region sein und Bestandteil einer Aufwertung der Vororte, die lange im Schatten von Paris standen. Als »Grand Paris« sollen die Vorstädte mit dem Zentrum zu einer Metropole zusammenwachsen – kulturell, aber auch politisch, ökonomisch, sozial, ökologisch und verkehrstechnisch.

Industriearchitektur und Denkmalschutz: Der einstige Industriestandort auf der Insel, Teil der Arbeitergeschichte Frankreichs und als Zentrum des Fahrzeugbaus im kollektiven Gedächtnis noch verankert, wurde nicht zum technischen Denkmal erklärt, auch das Musée Renault in Boulogne-Billancourt ist seit 2016 geschlossen. Auf dem einstigen Werksgelände, »Le Trapèze« genannt, entstand ein bürgerliches Quartier, ein kunterbuntes Durcheinander unterschiedlicher Wohn- und Bürobauten. Der Bürgermeister ist besonders stolz auf die gewährte kreative Freiheit für die Architekten und die Vielfalt der Materialien, Farben und Stile. »Der spektakuläre Anblick des Gebäudes ist für die Selbstdarstellung der Investoren und Stadtväter in Wahrheit wichtiger als die Akzeptanz durch die Bürger.« (Hannelore Schlaffer, Die City). Die Betrachterin fragt sich zudem, ob das Ganze wohl gut altern wird …

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