PARIS: MORLAND MIXITÉ CAPITALE
Marktforscherin: Als ich über ein Bauprojekt im Zentrum von Paris las, das auch einen Markt integriert, war mein Interesse gleich geweckt. Ein leerstehendes Verwaltungsgebäude am Seine-Ufer, in dem die Pariser früher ihre Bauanträge (Cerfa 1340609) einreichen mussten, wurde im Mai 2022 nach einem Komplettumbau neu eröffnet. Nun kann man in der Markthalle bei Terroirs d’Avenir Schalentiere und Schinken, Käse und Wein einkaufen, in einem Hostel übernachten, im Pool schwimmen oder beim Cocktail in der Rooftop-Bar den fantastischen Panoramablick auf Paris genießen. Sympa, non? Der riesige Betonbau der 1960er-Jahre, dessen Beiname »mort lente« (langsamer Tod, ein Wortspiel mit der Adresse Morland) dem abschreckend Abweisenden der ehemaligen Préfecture galt, erhielt ein spektakuläres zweites Leben. Mittendrin: die Markthalle im Miniaturformat mit vier Ständen…
Am Ufer der Seine: Bei dem Wettbewerb »Réinventer Paris«, mit der die Stadt vor einigen Jahren dazu aufgerufen hatte, für knapp zwei Dutzend Brachen und freiwerdende Gebäude neue Nutzungsvorschläge zu machen, hatte der Immobilienkonzern Emerige den Zuschlag für dieses urbane Filetstück direkt an der Seine erhalten, das im Mai 2022 als »Morland Mixité Capitale« eröffnet wurde. Rechtwinklig zueinander angeordnete Gebäuderiegel umgeben den 16 Geschosse hohen Bau in der Mitte, dazwischen gibt es begrünte Innenhöfe und auf dem Dach einen vertikal angeordneten Nutzgarten. Die öffentlich zugänglichen Bereiche im Erdgeschoss, die als eine Art Passage eine Verbindung vom Boulevard Morland zur Seine schaffen, wirken mit ihren Betonarkaden fast klösterlich – ein Entwurf des renommierten Architekturbüros Chipperfield. Die im Namen verewigte »mixité« war eine Vorgabe des urbanen Wettbewerbs, der eine Mischnutzung forderte: Aus dem Bürogebäude wollte der Bauherr ein »immeuble-quartier« machen, eine Art Dorf in der Stadt. Und tatsächlich gibt es neben Schwimmbad und Fitnessbereich, grünen Höfen und Urban Farming auf dem Dach, Geschäften und Büros auch Eigentums- und Sozialwohnungen, ein Luxushotel und ein Restaurant, eine Kita und eine Kunstgalerie. Eine komplexe Sanierung, das auf jeden Fall. Und das Versprechen: Mit dem Ineinander von Wohnen, Arbeiten und Genießen, Privatsphäre und öffentlichen Bereichen erhält Architektur auch wieder eine soziale Komponente, schafft Raum für soziales Leben.
Umbauen statt abreißen: Gelungene Stadtreparatur oder gewaltiger Immobilien-Deal? Zu den Pluspunkten des Projekts zählen das Bauen im Bestand, die clevere Abwassernutzung (Grauwasser der Jugendherberge wird als Gießwasser der vertikalen Begrünung auf dem Dach genutzt) und die durchdachte Energieversorgung (die Abwärme der Büros wird für die Warmwasserversorgung des Hotels genutzt, auf dem Dach gibt es auch Photovoltaik). Es ist unübersehbar, dass viel Geld investiert wurde – und vermutlich in dieser Toplage auch verdient, trotz der 135 Millionen Euro für den Baugrund (Teil der 450 Millionen Euro Gesamtkosten). Es bleibt abzuwarten, ob das Konzept funktioniert – dass sich Hotelgäste und benachbarte Schulen den Pool teilen, Wohnungseigentümer, Kitakinder und Backpacker vertragen, Bäcker, Unverpackt-Laden und Markthändler genug Kunden finden. Zu hoffen ist es, denn eine lebenswerte Stadt ist mehr als die Summe privater Renditeobjekte, und diese Art von Durchmischung könnte ein Vorbild sein… Leider bin ich mehr als skeptisch, vermute eher Geschäftemacherei als Interesse am Gemeinwohl, vor allem wenn ich von »offen konzipierten Grundrissen, die flexibel an spätere Umnutzungen anpassbar sein sollen« lese und von Arkaden, die in Innenräume umwandelbar seien. Der Kontrast zwischen dem Luxus von Hotel, Restaurant, Bar, Pool, Spa sowie der gehobenen Eigentumswohnungen (»adresse de prestige«, »prestations très haut de gamme«, »une situation privilégié«) zum Deckmäntelchen öffentlicher Bereiche ist einfach zu groß. Ähnlich wurde bei der Pariser Hauptpost verfahren: Architekt Dominique Perrault gewann den Wettbewerb zur Umgestaltung von Frankreichs größtem Postamt. Jetzt darin: Mischnutzung, bestehend aus 5-Sterne-Hotel, Restaurant und Panorama-Dachbar, Geschäften, Sozialwohnungen und Büros, einer Polizeistation, einer Kindertagesstätte sowie städtischem Logistikzentrum und Postamt.