NEUE SACHBÜCHER IM HERBST 2023
Leseherbst – Herbstlese: Gerade stapeln sich wieder die Verlagsvorschauen auf das Herbstprogramm in Buchhandlungen und in den Feuilleton-Redaktionen. Mit den teils mehr als 100 Seiten umfangreichen, vierfarbig produzierten Katalogen planen Buchhändlerinnen ihr Sortiment für den so wichtigen Weihnachtsumsatz, Kritiker, Zeitungs- und Magazin-Redaktionen sortieren ihre Besprechungswünsche. Seit die Verlagskatologe nicht mehr nur gedruckt an vertrieblich wichtige Adressen in Presse und Handel versandt werden, sondern oft auch online als Download-PDF zur Verfügung stehen, kann auch das Lesepublikum darin blättern. Die unendlich große Produktion an Romanen und Lyrik, Thrillern und Kinderbüchern, Ratgebern oder Graphic Novels habe ich selbst aber keineswegs gesichtet, sondern mir nur aus den Herbstvorschauen der Verlage Sachbuchtitel vorgemerkt, die ich lesen möchte – eine ganz persönliche Auswahl, die nur meinen Interessen folgt. Alle Zitate stammen aus den Vorschautexten.
Regeln regieren die Welt: Wissenschaftsgeschichte war während meiner Studienzeit einer der Schwerpunkte an der Universität Bielefeld, das hat meine Interessen nachhaltig geprägt. Dennoch war mir Lorraine Daston bislang kein Begriff, eine echtes Versäumnis. Die inzwischen emeritierte amerikanische Historikerin war zuletzt am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin tätig und hat 2022 einen dicken Wälzer über »Regeln« vorgelegt, der nun im Suhrkamp Verlag in deutscher Übersetzung erscheint (Oktober). In Zeiten, in denen immer mehr Menschen sich von Regeln eingeschränkt fühlen, ist ihre Notwendigkeit ein großes und aktuelles Thema. Ohne Regeln gäbe es keine Politik, keine Wissenschaft, keine Wirtschaft, keine Sprache, keinen Sport – Lorraine Daston zeigt in ihrem Buch, wann Regeln funktionieren und wie sie sich verändern. Für mich schon jetzt die wichtigste Neuerscheinung im Herbst.
Ist das nicht gefährlich? Einem engeren Thema und eingegrenzterem Zeitraum, dem Zweiten Weltkrieg, widmet sich Judith Mackrell in »Frauen an der Front« (Insel Verlag, Oktober). Die Autorin porträtiert darin Kriegsreporterinnen, die sich mutig mitten ins Geschehen begaben, kein Risiko scheuten und »mitten aus dem Machtzentrum der Nazis in Berlin und von der Front« berichteten, den D-Day in der Normandie und die Befreiung der Konzentrationslager dokumentierten. Sechs außergewöhnliche Frauen – Lee Miller, Martha Gellhorn, Sigrid Schultz, Virginia Cowles, Clare Hollingworth und Helen Kirkpatrick – eroberten so eine bis dahin weitgehend männliche Domäne des Journalismus. Übrigens ist vergangenes Jahr im Elisabeth Sandmann Verlag bereits ein Buch über Kriegsreporterinnen erschienen, das 30 Frauen im »Einsatz für Wahrheit und Frieden« vorstellt, bis hin zu Katrin Eigendorf, unterwegs in der Ukraine.
Eine menschenleere Welt: Unter der Vielzahl an Neuerscheinungen zu Natur, Klima- und Umweltschutz darf man gespannt sein auf das Buch »Verlassene Orte« von Cal Flyn (Matthes & Seitz, Oktober), das als Teil der von Judith Schalansky herausgegebenen, renommierten Reihe »Naturkunden« erscheint. Die Autorin erkundet verwaistes und verwüstetes Terrain, trostlose Orte, an denen niemand mehr oder kaum noch Menschen leben: »Sperrgebiete oder Geisterstädte, Festungsinseln und Niemandsländer«. Auch wenn sie dort Anzeichen von Regeneration entdeckt, mit ihrem Buch stellt die schottische Essayistin die »dringliche Frage, wie der Schaden, den wir an der Natur verursacht haben, noch behoben werden kann«.
Macht und Ohnmacht der Veränderung: Was ist erreicht vom Feminismus für Gleichheit und Gerechtigkeit, was muss weiter erstritten werden? Wenn ich die jüngeren Frauengenerationen betrachte, stöhne ich einerseits über all die Girlies, die meinen, die Welt stünde ihnen weit offen, und bemitleide andererseits die, die sich erneut an denselben Phänomen abarbeiten wie wir vor zwanzig Jahren (Frauenquote, #vorschauenzählen, #frauenzählen und so weiter). Also ist das Buch von Stefanie Lohaus Pflichtlektüre für mich. In »Stärker als Wut« (Suhrkamp Verlag, Oktober) beschreibt die Gründerin des Missy Magazine »fünf Jahrzehnte dieser weltverändernden Kraftanstrengung«.
Ebenfalls im Suhrkamp Verlag will Kristen R. Ghodsee mit »Utopien für den Alltag« die Hoffnung auf eine gleichberechtigte Welt fördern – sie versammelt Gegenmodelle zu ungerecht organisierten Bereichen wie Care-Arbeit, Erziehung oder Hausarbeit. Während der Untertitel »Eine kurze Geschichte radikaler Alternativen zum Patriarchat« eher einen geschichtlichen Abriss alternativer Lebensformen und Denktraditionen vermuten lässt, deutet der Vorschautext das Buch als Ratgeber – »ein praktischer Leitfaden für alle, die auf der Suche nach Ideen sind, wir gleichberechtigter und glücklicher leben können«. So unentschlossen ist übrigens auch der Originaltitel: »Everyday Utopia: What 2000 Years of Wild Experiments Can Teach Us About the Good Life«.
Bauen im Bestand: Nachdem ich bereits eines der Bücher von Vittorio Magnago Lampugnani (über »Kleine Dinge im Stadtraum«) gelesen habe, interessiert mich der angekündigte Debattenband »Gegen Wegwerfarchitektur« (Wagenbach Verlag, September) wegen des Themas erst recht. Zwar mehren sich die Befürworter nachhaltigen Bauens, doch das Bauen im Bestand hat noch keine rechte Lobby, meist geht es um kurzfristige und zu kurz gedachte Maßnahmen wie Dämmen. »Um den immensen Material- und Energieverbrauch der Bauwirtschaft zu reduzieren, fordert [der Architekt und Stadtwissenschaftler] eine rigorose Kehrtwende: die Abkehr von der Erschließung weiteren Baulands und dem hemmungslosen Verbrauch von Rohstoffen. Nicht abreißen und neu bauen, sondern umbauen, rückbauen, weiterbauen. Je länger ein Gebäude lebt, desto ökologischer ist es.«
Autos und Architekten: Noch ein Wagenbach-Buch (Oktober) über Architektur – um einen »kreativen Konflikt« geht es in »Automobil und Architektur« von Erik Wegerhoff. Zwar wird heute die autogerechte Stadt nicht mehr als das Nonplusultra, sondern eher kritisch gesehen, doch tatsächlich prägt sie bauliche Praxis und Urbanisierung seit dem 20. Jahrhundert. Dem Verlag zufolge geht es um »ruhenden Verkehr« genauso wie um Tankstellen, Parkhäuser und Drive-ins, Geschwindigkeitsrausch und Spielstraßen.
Klassiker ganz modern: Balzacs Exzesse mit Kaffee bei der Schreibarbeit sind fester Bestandteil der Literaturgeschichtsschreibung, weniger bekannt ist jedoch seine »Abhandlung über moderne Stimulanzien«, in denen er sich genau mit diesem exzessiven Konsum von Genussmitteln befasst. Ganz zeitgemäß: Der französische Schriftsteller widmet sich nicht nur den »Drogen« Wein, Kaffee und Tabak, sondern setzt sich auch Selbstversuchen aus und thematisiert als weiteres Suchtmittel Zucker (Friedenauer Presse, bereits erschienen).
Thema Typo: Als Typografie-Fan (und -Laie) habe ich mich hier schon mit diversen Beiträgen zu Schrift im öffentlichen Raum zu Wort gemeldet. Gern wüsste ich mehr, doch das Nischenthema Typografie ist auch in den Regalen von Buchhandlungen nicht gerade gut gefüllt, und wenn, stehen dort meist Lehrbücher für Grafiker. Umso mehr freue ich mich auf den Band von Judith Nierhaus über »Verfremdete Schrift« (Wallstein Verlag, September). Es geht darin um typografische Verfahren in der »deutschsprachigen Erzählliteratur der Gegenwart«. »Zeilen verlaufen kreuz und quer über die Seiten, einzelne Wörter oder ganze Passagen werden getilgt oder durchgestrichen, es tauchen Wörter in anderen Schriftarten und Schriftzeichen anderer Schriftsysteme oder Alphabete auf.« Schrift und ihre Materialität können nicht länger übersehen werden, die Typographie wird zu einem integralen Bestandteil der Erzählung. Vermutlich erklärt die Autorin im Buch auch, warum sie gerade Lyrik auslässt…
Buchmesse Frankfurt: Im Oktober findet in Frankfurt wieder die weltweit größte Buchmesse statt. Feuilleton und Buchblogger, TV und Rundfunk begleiten das vielfältige Programm, teils schon vorab mit Hinweisen auf Neuerscheinungen, noch intensiviert während der Laufzeit. Ehrengast ist dieses Jahr Slowenien: So ein Gastland spornt deutschsprachige Verlage immer an, den einen oder anderen Titel zu diesem Anlass übersetzen zu lassen. Naturgemäß vor allem Belletristik, Sachbücher passen von Perspektive und Thematik oft nur bedingt für ein deutsches Lesepublikum.