MARSEILLE: DAS NOAILLES-VIERTEL

Links und rechts der Canebière: Für Händler aus dem Orient und Mittelmeerraum war die im 7. Jahrhundert vor Christus gegründete griechische Siedlung Massilia das Tor zum Westen, in späteren Jahrhunderten war der Hafen von Marseille wiederum das Tor zum Osten und nach Nordafrika. Frankreichs zweitgrößte Metropole ist seit der Antike eine pulsierende und kosmopolitische Stadt mit bunt gemischter Bevölkerung. Anderswo – in Paris oder Lyon – wohnen die Migranten oder ihre zweite und dritte Generation in den Vororten, der Banlieue. Das ist in Marseille anders, gleich rechts und links der trubeligen Canebière liegen mit Noailles und Belsunce zwei vorwiegend von arabischen, afrikanischen und asiatischen Einwanderern bewohnte Viertel. Geografisch liegt die mediterrane Metropole zwar in Frankreich, doch sie wendet dem Land den Rücken zu und blickt über den Hafen und das Mittelmeer freundlich hinüber nach Nordafrika.

Afrika, Asien und die Provence: Vor allem der bunte Marché des Capucins hat es mir angetan, der bis auf sonntags täglich in den Gassen und vor der Metrostation Noailles stattfindende Markt mit scharfen Chilis und Couscous, Okra und eingelegten Oliven, frischer Minze und Lorbeerblättern. Zum »Bauch von Marseille« gehören aber auch die tunesischen Patisserien mit Baklava, Halva und Pistazienkonfekt, die Gewürzhändler, die auch Tee und Trockenfrüchte, Nüsse, Bohnen und Kichererbsen aus Jutesäcken verkaufen, Schlachter, Bäcker, Fischhändler und die Haushaltswarengeschäfte mit marokkanisch-bunten Tellern, Flechtwaren, Hammamtüchern, Teegläsern und Tajines in der Rue d’Aubagne. Der Journalist und Schriftsteller Jean-Claude Izzo, der aus Marseille stammte, beschreibt in seinem Krimi »Total Cheops« diese zentrale Achse von Noailles: »Descendre la rue d’Aubagne, à n’importe quelle heure, était un voyage. Une succession de commerces, de restaurants, comme autant d’escales. Italie, Grèce, Turquie, Liban, Madagascar, La Réunion, Thaïlande, Viêtnam, Afrique, Maroc, Tunisie, Algérie. Avec en prime, Arax, la meilleure boutique de loukoums.« (Die Rue d’Aubagne hinunterzugehen war zu jeder Tageszeit eine Weltreise. Läden und Restaurants reihen sich aneinander wie Anlegeplätze. Italien, Griechenland, Türkei, Libanon, Madagaskar, Réunion, Thailand, Vietnam, Afrika, Marokko, Tunesien, Algerien. Als Höhepunkt das Arax, die beste orientalische Patisserie.) Eine Freundin des Polizisten Fabio Montale wohnt am oberen Ende, gleich oberhalb der kleinen Metallbrücke, die zum Szene- und Street-Art-Viertel am Cours Julien führt.

Rue d’Aubagne: Während der Panier, ebenfalls ein ehemaliges Einwandererviertel, sich zum trendigen und teilweise bereits sanierten, aber noch entspannten und nicht abgehobenen Multikulti-Hotspot für Kreative und junge Familien entwickelte und Bars, Vintage-Läden und Kunstgalerien einzogen, regieren im Noailles-Viertel Armut und städtebauliche Vernachlässigung, was am 5. November 2018 in einer Katastrophe mündete: In der Rue Aubagne stürzten zwei Häuser ein, acht Menschen starben, Tausende weitere aus den benachbarten Gebäuden mussten evakuiert werden. Zwischen Nr. 61 und 69 klafft nun ein großes Loch, denn ein drittes baufälliges Haus musste während des Rettungseinsatzes abgerissen werden. An den Wochenenden darauf machen Zehntausende Einwohner von Marseille auf Demonstrationen ihrer Wut darüber Luft, dass die Stadt ihr Zentrum verkommen lässt. Hinweise auf den maroden Zustand hatte es schließlich gegeben. Überall wurde das Datum an die Wände gesprüht, ein Jahr später im November 2019 erinnerten Zeitungsartikel daran, dass sich seither noch nichts verbessert habe.

Was bringt die Zukunft? Zum Viertel gehören auch alteingesessene Fachgeschäfte, die 1827 gegründete Maison Empereur, das älteste Haushaltswarengeschäft Frankreichs in der Rue d’Aubagne (Nr. 3) und ebenso eine echte Marseiller Institution wie die nahe Herboristerie Père Blaize und die Kaffeerösterei Noailles an der Canebière, Marseilles Renommiermeile, die am alten Hafen beginnt. In meinem Blogartikel »Marseille für Foodies« habe ich sie vorgestellt. Mit der Epicerie L’Idéal (Nr. 11), dem Kollektiv Vélos en Ville und dem Recyclodrome (Nr. 47) zog auch die junge Gegenwart ins Viertel. Wird sich auch dieser Multikulti-Schmelztiegel zu einem neuen In-Viertel wandeln? Wird abgerissen oder renoviert?

 

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