MARLEN HOBRACK: ERBGUT

»Was von meiner Mutter bleibt«: Nach dem Tod ihrer Mutter muss Marlen Hobrack sich daran machen, eine Wohnung aufzulösen, vollgestopft mit Waren, teils in noch ungeöffneten Kartons. Statt »einen schönen Batzen Geld« oder ein »Einfamilienhäuschen« hinterlässt die Verstorbene womöglich einen Berg an Schulden – kurz steht im Raum, das Erbe auszuschlagen. Doch dann macht sich die Autorin ans Aufräumen. Hobrack holt 200 Tupperdosen und ein halbes Dutzend Staubsauger, stapelweise abgelaufene Vitaminpräparate und Körperpflegecremes, Vakuumierbeutel und Putzmittel, Porzellankatzen, Terrakottahühner und weiteren jahrzehntelang angesammelten Krimskrams nicht nur aus den Schränken und Schubladen, sondern auch aus dem Messie-Abseits. Mit ihrem Buch »Erbgut« gelingt es der Autorin, den mütterlichen Kaufzwang und das Horten von »Schnäppchen« nicht zu verurteilen, sondern ihm analytisch auf den Grund zu gehen, indem sie Überlegungen von Judith Butler, Sigmund Freud und anderen in ihre aufklärende Recherche einbezieht. Im Rückgriff auf biografisch prägende Erfahrungen weckt Hobrack unsere Anteilnahme an der psychischen und sozialen Situation ihrer Mutter – einer schwer arbeitenden, alleinerziehenden Frau mit schwieriger Kindheit und ewigen Geldsorgen. »Erbgut« heißt das Buch aber auch, weil die Auseinandersetzung mit der Lebensweise der Mutter für die Tochter »Angstbewältigung« ist, der Frage nachgeht: »Wie viel meiner Mutter steckt in mir? Werde ich sein, wie meine Mutter gewesen ist?«

Tatsachenliteratur: Alle Textgattungen können Sachbuchcharakter haben, nicht nur Dokumentationen, Reportagen und Essays, Erinnerungen und Biografien, auch erzählende, unterhaltende Literatur. Gerade ein literarisch geformtes Buch wie diese dokumentarische Fiktion (vom Verlag als Sachbuch angekündigt, dagegen nennt Anne Weber »Bannmeilen«, ihre Erkundung der Pariser Banlieue, einen »Roman in Streifzügen«) führt zu relevanten Erkenntnissen. Während männliche Autoren für seitenlange Bestandsaufnahmen als »neue Archivisten« gefeiert werden, werden Themen, die als ausschließlich »weiblich« gelten, oft abgewertet. Nicole Seifert hat in ihrem Buch »Frauen Literatur« (Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021) dargestellt, wie schnell den Alltagsbeschreibungen von Autorinnen Befindlichkeitsprosa vorgeworfen oder ihnen das Etikett banal, kitschig oder trivial verpasst wird. Dabei hatte etwa der Journalist Egon Erwin Kisch (1885–1948) im Vorwort zu seinem Reportageband »Der rasende Reporter« (1925) betont: »Nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit, nichts ist exotischer als unsere Umwelt, nichts ist phantasievoller als die Sachlichkeit.« Und auch andere Zeitgenossen hatten in den 1920er-Jahren die »Darstellung von Zuständen« (Bernard von Brentano) und Berichterstattung aus der Wirklichkeit gefordert, war etwa der Rowohlt Verlag mit »Tatsachenliteratur« erfolgreich. Als Teil einer solchen »Neuen Sachlichkeit« lese ich dieses wichtige, bewegende Buch.

Alte Eltern: Zwar führt Hobrack einen Teil des übermäßigen Hortens auf die Mangelwirtschaft der DDR zurück, die ihre Mutter prägte, doch auch zu den Alltagserfahrungen der westdeutschen Boomer gehört das Auflösen, Aussortieren, Wegwerfen. Der Generation ihrer Eltern, mit Kriegsnot und Nachkriegsmangel aufgewachsen, galt das »Horten« nicht als fragwürdig, denn sie glaubten, dauerhafte materielle Werte zu erwerben, Konsumkritik prallte wirkungslos ab. Ihre Töchter und Söhne stellen bei der Haushaltsauflösung fest, dass sie selbst einfach keinen Platz für weitere Dinge haben, und dass auch sonst niemand Bücher und scheinbar Wertvolles wie ganze Porzellanservices, Tischtücher für große Tafeln, Perserteppiche, Blumengemälde oder 24-teilige Bestecksets nehmen möchte, nicht mal geschenkt. Gerade beklagte der österreichische Schriftsteller Karl-Markus Gauß im »Standard« (17. November 2024), dass die Zeit vorbei sei, in der man Bibliotheken noch verkaufen und Bücher verschenken konnte. »Nicht alles, was teuer ist, hat einen Wert«, muss auch Hobrack feststellen, als sie den Fehler begeht, die Dinge und ihre Rechnungen parallel zu entsorgen: »Schon gar keinen Wiederverkaufswert.«

 

Marlen Hobrack, Erbgut. Was von meiner Mutter bleibt, Harper Collins, Hamburg 2024