MARGHANITA LASKI: HERZ, SPRICH LAUTER!
Haunting stuff, nerve-wracking: Seit langer Zeit habe ich kein Buch mehr gelesen, bei dem ich während der gesamten Lektüre auf ein Happy End hoffte. Filme, die mich so manipulieren und womöglich kalkuliert zu Tränen rühren wollen, hasse ich. Wenn es zu offensichtlich wird, gehe ich auch vor dem Ende aus dem Kino raus. Hier ziehe ich meinen Hut vor der verknappten Erzählkunst der Autorin, Leserinnen und Leser in ihren Bann zu ziehen. Eher »piano« geht es los, von Seite zu Seite wächst der Drang zu erfahren, wie es weitergeht. Diesen ursprünglich 1949 erschienenen Roman mit dem Eiffelturm auf dem Cover hatte ich eigentlich nur gekauft, weil ich versuche, alles an Literatur (ja, alles, U + E) zu lesen, was in Paris spielt. Doch kaum mit der Lektüre begonnen, konnte ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen und habe bis zur letzten Seite mitgefiebert, in der Hoffnung, der Protagonist möge keine falschen Entscheidungen treffen. »If you like a novel that expertly puts you through the wringer, this is the one.«, schrieb Nicholas Lezard 2001 anlässlich der englischen Neuausgabe im »Guardian«. Mir ging es wie ihm, Spannung (»the book’s nail-biting tension«) und der Plot (»nerve-wracking towards the end«) können es durchaus mit Thrillern aufnehmen (»It’s extraordinarily gripping: it has the page-turning compulsion of a thriller while at the same time being written with perfect clarity and precision.«). »This is haunting stuff«, ist das Fazit des Guardian-Kritikers – und meins auch.
Vater und Sohn? Hilary Wainwright ist Brite, in Frankreich seit 1938 verheiratet mit der aus Polen stammenden Lisa. Kurz nach Kriegsbeginn verlässt Hilary Lisa und seinen neugeborenen Sohn, um sich, im Einverständnis mit seiner Frau, der britischen Armee anzuschließen. Lisa wird bald darauf von der Gestapo verhaftet und ermordet. Am Weihnachtsabend 1943 erfährt der junge Witwer, dass sein erst zweijähriger Sohn in den Kriegswirren in Paris seither verschollen ist. Zwei Jahre später, nach Kriegsende, kehrt Hilary Wainwright, im zivilen Alltag ein Dichter und Intellektueller, in das kriegszerstörte und verarmte Frankreich zurück. Der Franzose Pierre hatte Kontakt zu ihm aufgenommen und vorgeschlagen, das Kind zu suchen. Ein geradezu unmögliches Unterfangen nach so langer Zeit, denn es gibt keine brauchbare Spur und nicht einmal die Gewissheit, dass sein Sohn überhaupt noch am Leben ist. Hilary kommt nur durch Pierres Hilfe zu ein paar zweifelhaften Informationen, die ihn in ein Waisenhaus nördlich von Paris führen. Dort begegnet er einem Buben, der sein Sohn sein könnte – oder auch nicht. Während seiner Suche stellt sich Hilary immer stärker die Frage, wen er eigentlich zu finden hofft und was er sucht. Denn letztlich hat er im Krieg die Hoffnung auf einen Neubeginn verloren, Unsicherheit begleitet alle seine Entscheidungen, das Verlorene scheint unwiederbringlich. Zwei Jahre lang hat er versucht, sich alles Fühlen abzugewöhnen. Offenbar erfolgreich.
Postwar France: Dass »Little Boy Lost«– so der Originaltitel des 1949 erschienenen Buchs – so gefangen nimmt, liegt keineswegs nur am packenden Plot, sondern auch an der atmosphärisch dichten Beschreibung des Nachkriegsfrankreichs. Dabei geht die Autorin gar nicht mal so sehr ins Detail, sondern schafft mit wenigen Pinselstrichen ein eindringliches Bild – die Trümmerlandschaft im Zentrum der nordfranzösischen Stadt, der blühende Schwarzmarkthandel, die Kollaborateure, die sich längst neue Geschichten zugelegt und wieder eingerichtet haben, die leeren Mägen der Kinder im Waisenhaus, ihr jämmerliches Spielzeug und ihre dürftige Kleidung, die Widerstandskämpfer und ihre Erinnerungen an die die Okkupationszeit und die Untaten der Gestapo.
Marghanita Laski: Tatsächlich war »Herz, sprich lauter!« 1954 schon einmal bei Arche erschienen. Nun wurde der jahrzehntelang vergriffene Roman der britischen Autorin von Sabine Roth neu übersetzt (in England brachte ihn Persephone Books 2001 neu heraus). Die 1915 in Manchester geborene Marghanita Laski veröffentlichte weitere, oft satirische Romane, ein Theaterstück und Drehbücher, Biografen (unter anderem zu George Eliot), Kinderbücher und zahlreiche Kurzgeschichten. Außerdem schrieb Laski Buchrezensionen für die Times und lieferte regelmäßig Beiträge für das »Oxford English Dictionary«. Ihr erster Roman »Love on the Supertax« erschien 1944, bis 1953 folgten fünf weitere, darunter der Zeitreiseroman »The Victorian Chaise-Longue«. Von der Verfilmung ihres Buchs »Little Boy Lost«, die 1953 in die Kinos kam, hielt sie zu Recht nichts – das Musical mit Bing Crosby in der Hauptrolle hat mit der Vorlage herzlich wenig zu tun. Marghanita Laski starb 1988.
Marghanita Laski, Herz, sprich lauter, aus dem Englischen von Sabine Roth, Arche Literatur Verlag, 20 €, www.arche-verlag.com
Nachtrag: Apropos Aneignung, Blackfacing: Bislang ging mir die Frage, wer wessen Geschichte erzählt, wer sich wessen Stimme zu eigen machen darf, für die Belletristik eigentlich zu weit. Doch angesichts missglückter Beispiele männlicher Autoren, im Roman uneingeschränkt aus der Perspektive einer Frau schreiben, stellt sich vielleicht auch hier die Frage, ob es der Autorin gelingt, eine männliche Figur glaubhaft darzustellen. Ich möchte das hier nicht abschließend beurteilen, aber ich vermute doch, dass kein männlicher Autor zu diesem so frühen Zeitpunkt kurz nach dem Zweiten Weltkrieg einen Protagonisten so voller Selbstzweifel und Unsicherheiten als Hauptfigur gewählt hätte. Mir gefällt aber gerade das gut, denn die praktizierte Verdrängungskultur und das »Unter-den-Teppich-Kehren« aller Emotionen, Traumata und Beschädigungen aus dem Krieg hat ja selbst noch die nächste Generation geprägt. Oder lese ich das nur so? Mir scheint das Buch jedenfalls eine außerordentlich frühe Beschäftigung mit der Frage, wie man nach Verlust, Tod, Krieg denn weitermachen soll. Dass die Hauptfigur ein Mann ist, ist sozusagen conditio sine qua non.