KASSIA ST CLAIR: DIE WELT DER STOFFE

How Fabric Changed History: Der englische Untertitel gibt dem Buch der britischen Journalistin eine etwas andere Tendenz – obwohl Kassia St Clair auch über Mode und Design schreibt, will sie in »Die Welt der Stoffe« nicht einfach nur über Textilien plaudern. Stoffe haben die Welt verändert, vorangebracht und gestaltet! Die weitreichende Bedeutung für die Gesellschaft zeigen rund ein Dutzend ihrer Beispiele – von den Wollsegeln der Wikinger bis zu Weltraumanzügen. Dabei geht es keineswegs nur um die Eroberung neuer Räume, sondern auch um Biotechnologie und Kunstfasern, Sklavenhandel und Fabrikarbeit, Fast Fashion und Industriespionage, Mumien und die Seidenstraße.

Naturfasern: Am Beginn der Geschichte(n) stehen die vier Hauptquellen für Stoffe, Baumwolle, Leinen, Seide und Wolle, und die verschiedenen Techniken wie Zwirnen, Spinnen und Weben, mit denen Garn und Gewebe hergestellt werden konnten. Dass Archäologen Zeitaltern Namen wie Eisen- oder Bronzezeit und nicht Flachszeit oder Keramikzeit gaben, liegt daran, dass Stoffe und Tonwaren schnell vergängliche Materialien sind, da sie (mit seltenen Ausnahmen) zerfallen oder wieder zu Erde werden und so kaum Spuren ihrer Existenz hinterlassen, während Metallobjekte erhalten blieben, auch wenn sie womöglich im Alltagsleben der Menschen eine viel geringere Rolle spielten. Dass überhaupt so früh in der Menschheitsgeschichte entdeckt wurde, wie aus Pflanzen Fäden gemacht werden, setzt ein technisches Können voraus, das nur überraschen kann.

Spitze! Eines der vielen interessanten Kapitel gilt der Klöppel- und Nadelspitze – aus Flandern, Italien und aus Frankreich, wo die merkantilistische Wirtschaftsförderung durch Jean-Baptiste Colbert (1619–1683) zur Gründung mehrer Spitzenmanufakturen führte. Gezielt warb der Finanz- und Handelsminister des Sonnenkönigs Ludwig XIV. dafür Fachkräfte aus Venedig ab, um weniger Luxuswaren importieren zu müssen. Denn die italienische Spitze war so extrem teuer, dass nur die reichsten Adligen und Mitglieder des Königshauses sie sich leisten konnten, die damit ihren gesellschaftlichen Status zur Schau stellten: So hinterließ der Marquis de Cinq-Mars, der als »grand maître de la garde robe« am Hof fungierte, mehr als 300 spitzenbesetzte Kniehosen, als er 1642 geköpft wurde. Während der französische König Ludwig XIV. am liebsten »col à rabat« genannte Kragen trug, die zwei großen, unter dem Kinn zusammengebundenen Rechtecken glichen, schätzte die englische Königin Elisabeth I. überdimensionierte Halskrausen, die sich wie Heiligenscheine um das Gesicht aufbauschten und durch stützende Drahtrahmen stabilisiert werden mussten. Zeitweilig war es Mode, Spitzenkragen über der Rüstung zu tragen, Spitze zierte den Rand von Stiefeln und die Säume von Kniehosen und Ärmeln. Die riesigen Summen, die für Spitze gezahlt wurden, kamen allerdings nicht bei denen an, die sie herstellten – Frauen, die oft unter denkbar schlechten Bedingungen und für armselige Löhne arbeiteten (und – siehe Bangladesch – dies auch heute noch tun).

Kevlar und Spinnenseide: Nach ähnlich faktenreichen Kapiteln zu Wolle, Baumwolle und Seide geht es zuletzt um die Hightech-Materialien von heute. In meinen Büchern zum Schwimmen hatte ich schon über die Ganzkörperanzüge gelesen, durch die bei Olympischen und anderen Schwimmwettbewerben Weltrekorde im großen Stil gebrochen wurden. »Technologisches Doping«, fanden Kritiker. Hightech-Materialien werden für den Profisport entwickelt, ob ultraleichte Laufschuhe oder atmungsaktive und wasserfeste Outdoor-Bekleidung für Bergsteiger, um dann im Massenmarkt durch gesteigerte Verkäufe Profit zu erzielen. Mit dem Kapitel zur Spinnenseide endet das Buch, dem eine materialreiche Recherche zugrundeliegt. Eine erschöpfende Darstellung zum Thema Textilien soll es bewusst nicht sein, stattdessen lädt die Autorin mit rund einem Dutzend Geschichten Neugierige dazu ein, Stoffe, wie sie uns täglich umgeben, ein wenig genauer unter die Lupe zu nehmen. Übrigens: Ebenfalls gern und mit großem Interesse gelesen habe ich das erste Buch von Kassia St Clair, Die Welt der Farben.

Kassia St Clair: Die Welt der Stoffe, Hoffmann und Campe Verlag 2020, übersetzt von Marion Hertle