BARBARA HONIGMANN: CHRONIK MEINER STRASSE

Ankommen: Nach wie vor bestimmt das Corona-Virus die Nachrichten und die Berichterstattung in den Tageszeitungen. Darunter auch gute – statt sich auf das Türaufhalten, Päckchen annehmen und Grüßen am Briefkasten zu beschränken, verwandelte sich manch unpersönliche Nachbarschaft in das, was in Städten sonst so selten ist, in Hausgemeinschaften mit gegenseitiger Unterstützung. Barbara Honigmann hat in der Straßburger Rue Edel schon viele Jahrzehnte vorbeiziehen gesehen, dabei sollte ihre Wohnung nur eine Übergangslösung sein, um aus dem »häßlichen« Haus, der »tristen« Straße und »öden« Gegend bald in bessere Viertel zu ziehen. Aus der Straße des Anfangs und des Ankommens wird eine Art Haus- und Viertelsgemeinschaft mit Momenten friedlicher Eintracht beim großen Picknick zur Fête de la Musique. Zuwanderer aus aller Welt leben hier, und auch sie und ihre Familie sind zugezogen, nicht nur von Berlin in ein anderes Land, sondern auch vom Osten, von der DDR in den Westen, »den wir nur aus dem Fernsehen kannten«. In scheinbar beiläufigen Notizen – mit leiser Ironie, aber überaus menschenfreundlich und versöhnlich – beschreibt Barbara Honigmann die kleine Welt ihrer Straße, mit dem Bügelservice der Portugiesin Marie-Ange und dem Kiosk des Kurden, den Dealern neben der Kinderkrippe und den Studenten-WGs, der elsässischen Brasserie und dem Bauernmarkt um die Ecke.

Fremd bleiben: Weit weg von Innenstadt, Europaparlament und Kathedrale herrscht in ihrer Straße nationale und konfessionelle Vielfalt, hier leben Araber, Türken, Pakistani, Schwarzafrikaner, Osteuropäer, Asiaten aus Fernost und vor allem Juden, aber auch das »andere« Frankreich, das genau dieser bunten Mischung misstrauisch gegenübersteht. Denn die autobiografisch gefärbte »Chronik« ist vor allem den wechselnden Bewohnern gewidmet, die hier zeitweilig zuhause sind, und dem ganz normalen Chaos eines multikulturellen Viertels. Einige Nachbarn haben nur einen kurzen Auftritt, wie der Verrückte, der gern vom Balkon in den Innenhof pinkelt, oder ein Mannfrauchen mit dreibeinigem Hund, vielleicht Mann, vielleicht Frau. Mit anderen Nachbarn schließt die Erzählerin Freundschaft, und nur wenige Seiten benötigt die lebenskluge Autorin dann, um eine ganze Lebenswelt einzufangen, die von Nadja etwa, die Selbstmord begeht, oder die der beiden jüdischen Witwen im Haus, Frau Loeb und Frau Kertész, deren eine wieder und wieder von ihrer Deportation erzählt, und die andere jahrelang um Anerkennung ihrer Verfolgung und Leiden kämpfen musste, um eine wenigstens symbolische Wiedergutmachung zu erstreiten.

Heimat: Tatsächlich hat es der so leichtfüßig daherkommende, schmale Roman in sich, er ist so knapp wie intensiv. Mitten in dem heiteren Panorama lebendigen jüdischen Alltags im heutigen Europa, das Barbara Honigmann entwirft, mit orthodoxen und weniger orthodoxen Juden, Laubhüttenfest und Bar Mizwa, geht es auch immer wieder um das Thema des Ankommens oder Fremdbleibens, um die Rolle von Sprache und Heimat. »So gibt es manche in unserer Straße, die irgendeine verlassene Heimat mit sich herumtragen, die sie freiwillig oder unfreiwillig verlassen haben, die sie verklären oder verabscheuen, nach der sie sich sehnen oder die sie lieber vergessen möchten und doch nie ganz hinter sich lassen können, wahrscheinlich leben sie auf irgendeine Art immer weiter an beiden Orten zugleich […].« Ein herzerwärmendes und gerade jetzt angesichts geschlossener Grenzen lesenswertes Buch!

 

Barbara Honigmann, Chronik meiner Straße, 2015 erschienen im Hanser Literaturverlag und 2016 als Taschenbuchausgabe bei dtv