ANNE WIAZEMSKY: PARIS. MAI ’68
Die Geschichte einer Emanzipation: Juni 1966: Die Abiturientin Anne hat einen Teil der Prüfungen nicht bestanden und muss sich auf das mündliche »Bac« im September vorbereiten. Neunzehn Jahre ist sie alt und hat im Jahr zuvor schon in einem Film von Robert Bresson mitgespielt. Bei den Dreharbeiten und anderen Gelegenheiten hat die Schülerin den Regisseur Jean-Luc Godard kennengelernt, aber nicht weiter beachtet. Einer ihrer Kindheitsfreunde ist Antoine Gallimard (der später ihre Bücher verlegen wird), ihr Großvater ist François Mauriac, 1952 mit dem Literatur-Nobelpreis ausgezeichnet, ihr bereits verstorbener Vater, ein aus Russland emigrierter Prinz, stand als Diplomat in französischen Diensten. Die neuerliche Begnung mit Godard wird zum Wendepunkt in ihrem Leben. In ihrem Roman »Une année studieuse« schildert Anne Wiazemsky (1947–2017) die romantische Geschichte der Begegnung eines Mädchens mit einem 17 Jahre älteren Regisseur, den die Autorin als so besitzergreifenden wie liebevollen Tyrannen beschreibt – faszinierend, eloquent, überaus anhänglich, unvorhersehbar, manchmal aufbrausend oder verstimmt, dann wieder von Selbstzweifeln geplagt und um Entschuldigung bittend. Nach einem flammenden Beginn der Liebesgeschichte in der Provence schlägt sich das junge Mädchen tapfer gegen die Widerstände ihrer Familie. Der Großvater Mauriac, stock-katholisch und konservativ, ja reaktionär, missbilligt die Lebensweise und Einstellungen seiner Enkelin, nimmt aber den »Shitstorm« (damals noch in Form von Telefonterror und bösen Briefen), den die Beziehung des noch nicht mündigen Mädchens auslöst, mit Humor.
Bürgerliche Konventionen: Typisch für die Prüderie der Zeit scheint mir, dass nur das Mädchen Vorwürfe aushalten muss: Statt sich den älteren Mann vorzuknöpfen, wird die Tochter von der Familie beschimpft. Die Angst vor Schwangerschaft und illegaler Abtreibung ist immer gegenwärtig, die Mutter klagt: »Du ersparst mir aber auch gar nichts«, muss aber mit zum Gynäkologen, weil die Tochter noch minderjährig ist (die »Pille« gab es legal erst ab Ende 1967 in Frankreich – eine Zeit des Umbruchs, auch in der Sexualität). Selbst am Hochzeitstag überschüttet eine Assistentin Godards lieber die junge Ehefrau mit bitterer Häme statt dem bekannten Regisseur seine Vorliebe für Kindfrauen um die Ohren zu hauen. In diesen alles andere als toleranten Zeiten bleibt Anne dennoch stur und zieht mit Godard zusammen. Auf sein Betreiben hin wird geheiratet – Anne selbst ist gar nicht sicher, ob die Ehe nicht ein Käfig und ihr ihre Freiheit wichtiger ist. Dem großbürgerlichen Paris steht die triste Atmosphäre der Universität in Nanterre gegenüber, noch Baustelle und weitab gelegen, an der die junge Studentin das verschulte Studium eher langweilt. Doch Anne erinnert sich lieber an die komischen Anekdoten in ihrem Leben als mit der Vergangenheit zu hadern, und die berührende Liebesgeschichte hat ja sozusagen ein Happy End. »Une année studieuse, mon premier roman, était ensoleillé. Mais j’ai senti que je ne pouvais pas m’arrêter à ça car ce roman finit comme un conte de fées, or les contes de fées, dans la vie, ça n’existe malheureusement pas…«, sagte die Schriftstellerin 2015 in einem von Laure Adler geführten Interview. Wie ein Märchen ende der erste Roman, die Wirklichkeit sei aber selten so sonnig und märchenhaft, deshalb habe sie noch einen zweiten Band geschrieben.
Les années Mao: Fans der Nouvelle Vague kennen Anne Wiazemsky vor allem aus den Filmen, die sie Ende der 1960er-Jahre mit Jean-Luc Godard drehte, mit dem sie nun verheiratet war: aus »La Chinoise« von 1967 über eine kleine, radikale Maoisten-WG, in dem sie eine marxistische Bürgerstochter spielt, die Philosophie in Nanterre studiert; aus »Weekend« oder den »All about Eve«-Sequenzen in Godards Film »One plus one« mit den Rolling-Stones. Noch ein halbes Dutzend weiterer Filme haben sie gemeinsam gedreht, was in dem Buch »Godard par Godard« seltsam unterbelichtet bleibt. Während darin ein Kapitel »Les années Anna Karina« heißt, geht es in »Les années Mao« nur ganz am Rande um Anne Wiazemsky, die später weitere Filme mit Pier Paolo Pasolini, André Téchiné, Alain Tanner und anderen drehte, bevor sie vorwiegend als Schriftstellerin arbeitete und für ihr literarisches Werk mehrere Preise erhielt.
Paris, Mai ‘68: »Un an après«, ein Jahr später. Das frisch verheiratete Paar Godard-Wiazemsky hat gerade die erste eigene Wohnung bezogen, in der Rue Saint-Jacques Nummer 17 im Pariser Quartier Latin. Godard ist siebenunddreißig, Wiazemsky zwanzig Jahre alt, und ihr Philosophie-Studium hat sie aufgegeben. Zu den komischsten Szenen des ersten Bands hatten die Begegnungen an der Universität Nanterre gehört, wo »Dany, mon camarade anarchiste« die junge Studentin mit dem Ruf »solidarité des rouquins«, Solidarität unter Rotschöpfen, anzubaggern versuchte. Man ahnte schon, was sich im zweiten Band bestätigt, bei Dany handelt es sich um Daniel Cohn-Bendit, den Sprecher der Pariser Studentenbewegung.
Als im Mai 68 die Revolte losbricht, liegt die Wohnung – nahe der Sorbonne, um die Ecke vom Boulevard Saint-Michel und unweit der Seine – mittendrin im Viertel der Straßenkämpfe und Barrikaden, Kundgebungen und Demonstrationen, der Polizeisperren, brennenden Autos und ausgegrabenen Pflastersteinen. Anne steht mit Jacques Brel vor der Kamera und verfolgt die Geschehnisse, die Studenten, Arbeiter und Intellektuelle auf die Barrikaden treiben, mit Sympathie und Interesse, doch ohne selbst politisiert zu werden. Vom utopischen Überschwang und der Euphorie lässt sie sich nicht anstecken, im Gegenteil, die immer heftiger ausartenden Straßenschlachten in Paris machen ihr Angst, den Parolen und Theorien wie der Besetzung des Théâtre de l’Odéon begegnet sie mit Skepsis. Doch mit dem genauen Blick der unbestechlichen Beobachterin beschreibt sie die politischen Ereignisse vom Mai ’68, die sie hautnah miterlebte – mal auf der wilden Flucht vor den Schlagstöcken der Polizei, mal ganz unernst und kichernd auf Rollschuhen.
Treffen mit Beatles und Rolling Stones: Von solchen Anekdoten, häufig hübschen Geschichten wie etwa von dem Ausflug nach London, wo Anne und Paul McCartney unter dem Tisch Tee trinken, während John Lennon und Godard aneinandergeraten und aus dem geplanten Beatles-Film nichts wird (den Vertrag übernehmen dann die Rolling Stones), ist das Buch voll. Anne Wiazemsky erzählt humorvoll von Dreharbeiten in Italien, einer Übernachtung bei Jeanne Moreau, vom Theaterfest in Avignon oder der Rückreise von der Côte d‘Azur, nachdem ihr Mann und seine Mitstreiter das Filmfestival in Cannes aus Solidarität mit den Pariser Maiunruhen abgebrochen haben. Es gibt Ärger mit Godard, weil Anne sich am Strand »den Bronzeton einer Aprikose« zugelegt hat, wo doch revolutionäre Blässe angesagt wäre…
Während Anne erwachsener wird und sich befreit, radikalisiert sich Godard zusehends, streitet immer erbitterter und überwirft sich mit langjährigen Freunden. Er träumt von einem revolutionären Kino und wird zugleich krankhaft eifersüchtig auf seine junge Frau. Am Ende des autobiografisch gefärbten Romans deutet sich schon die Entfremdung und Trennung der Autorin von Godard an. 2012 und 2015 sind Anne Wiazemskys »Erinnerungsromane« im französischen Original erschienen. 2018, fünfzig Jahre nach den Ereignissen, kam mit »Paris, Mai ’68« der zweite Band auch in deutscher Übersetzung im Wagenbach Verlag heraus. Der liebevolle, leicht ironische Blick zurück und der sympathisch unprätentiöse Ton machen das Buch über die Revolte von 1968 zu einem lesenswerten, authentischen Zeitzeugnis.
Anne Wiazemsky, »Une année studieuse« und »Un an après«, Gallimard, Paris 2012 und 2015, beide als folio-Taschenbücher lieferbar, folio-lesite.fr
Anne Wiazemsky, »Paris. Mai ’68. Ein Erinnerungsroman«. Aus dem Französischen von Jan Rhein, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2018