ANNE DE COURCY: COCO CHANELS RIVIERA
Glanz und Glamour der Côte d’Azur: Die britische Journalistin Anne de Courcy hat beeindruckend viel gelesen zu den 1930er-Jahren an der Côte d’Azur – von Sybille Bedford bis zu Simone Veil – und lässt aus zahllosen Augenzeugenberichten den Glamour dieser Vorkriegszeit und den Lebensstil der Reichen und Prominenten wiederauferstehen, mit ihren Dinnerpartys, Cocktailplaudereien, Nachtclubs und Kasino-Besuchen. Politiker, lebenshungrige Millionäre, erfolgreiche Filmstars und Schriftsteller, dekadente Expats, wohlhabende Aristokraten, selbst den zurückgetretenen King Edward VIII. und seine Gattin Wallis Simpson zieht es an die französische Riviera. Und Modedesignerin Gabrielle »Coco« Chanel, die ein Landhaus in Roquebrune besitzt, mittendrin.
Promis und VIPs: Der Klappentext verspricht einen »spannenden Gesellschaftsroman«, und tatsächlich ist das anekdotenreiche Buch in der ersten Hälfte recht unterhaltsam, auch wenn es viel um Klatsch geht und wer mit wem schläft. Das minuziöse Nacherzählen anhand von paraphrasierten Memoiren und anderen Quellen führt zur Erwähnung manch überflüssiger Details (ein neues Stück Seife im Badezimmer, neun Löcher Golf als Nachmittagsbeschäftigung, Schuhgröße 37…), sodass der Focus teils etwas verlorengeht und der Text von Berühmtheit zu Berühmtheit mäandert. Denn obwohl das Buch den Namen von Coco Chanel prominent im Titel trägt und es immer mal wieder um ihre modischen Innovationen oder ihre Liebhaber geht, ist sie doch keineswegs der »rote biografische Faden« – neben Misia Sert, Edith Wharton, Florence Gould, Jean Cocteau, Winston Churchill, Somerset Maugham, Marlene Dietrich, Georges Simenon, Aldous Huxley, Lion Feuchtwanger, Bert Brecht tauchen noch viele weitere sporadische Gäste und dauerhafte Bewohner der Côte d’Azur auf (leider hat sich der deutsche Verlag nicht die Mühe gemacht, die Bibliografie vollständig um deutsche Ausgaben oder Originaltitel zu ergänzen, etwa bei Gerhard Heller, Simone Veil, Herbert Lottman, Jean Guéhenno, auch scheint mir die Literaturliste eher unvollständig).
Frankreich unter deutscher Besatzung: Doch dann marschieren deutsche Truppen in Frankreich ein, immer mehr jüdische und politische Flüchtlinge suchen im Süden Frankreichs Zuflucht. Bald geht es für viele Menschen nur noch um den Versuch zu überleben. Für den Teil zum Zweiten Weltkrieg, Kollaboration und Résistance, Hunger und Verfolgung unter der deutschen Besatzung hat die Autorin auch zahllose Erinnerungen, die sich im Archiv von Yad Vashem befinden, hinzugezogen. Ihre Vorgehensweise bleibt die gleiche: Anekdoten wie die vom Mann, der zwei frische Eier geschenkt bekam, die ihm die Gestapo wegnahm, und Banales (im Winter trug man selbstgestrickte lange Wollsocken) stehen unmittelbar neben Rettungsgeschichten (Familie Klarsfeld versteckte sich hinter einem Schrank) und dem Tod im Konzentrationslager, wobei das »Vergasen« dem zynisch-menschenverachtenden internen Sprachgebrauch des Nazi-Apparats bedenklich nahekommt – zumindest hier im Kontext anekdotischen Erzählens wäre ermordet oder getötet angebrachter. Zwar verbindet die Autorin die Geschichten und Geschichtchen durch Hintergrundwissen und erläutert Zusammenhänge, doch zum Boulevardesken des ersten Teils, der auch ein wenig den allgemeinen Voyeurismus befriedigt, passt ihre Schreibweise deutlich besser als zu diesem dunklen Kapitel deutsch-französischer Geschichte.
Dennoch unbedingt ein Lesetipp – wer mehr über die Glanzzeit der Côte d’Azur wissen will, liest einfach bei den im Buch Genannten weiter!
Anne de Courcy: Coco Chanels Riviera. Vom Lieben, Leben und Überleben an der Côte d’Azur, übersetzt von Elke Link, Insel Verlag, Berlin 2022