ROMY STRASSENBURG: ADIEU LIBERTÉ

Wir Europäer? Gegen all die »Mein Paris«-Bücher von Hauptstadtkorrespondenten, die sich als inner circle und oberste Liga verstehen und »Frankreich besser kennen als Frankreich sich selbst«, ist dieser Band einer jungen Journalistin wirklich ein Lesegenuss. Weil Romy Straßenburg deutlich macht, was für eine Herausforderung der »Wahnsinn Paris« ist. Weil sie authentisch das Lebensgefühl einer jungen Generation beschreibt – zumindest das urbaner, kosmopolitischer Mittdreißiger mit dem Traum von einer europäischen Identität. Weil sie ihre Desillusionierung thematisiert, was das Sehnsuchtsziel Frankreich und die Klischees von laisser-faire und savoir-vivre, Stil und Esprit angeht. Weil sie steife Botschaftsempfänge und Altherrenwitze von Pressesprechern, missglückte Tinder-Dates und die #metoo-Bewegung in Frankreich, hohe Mieten und das teure Leben, den anstrengenden Rhythmus der Stadt und die Bevölkerungsdichte mal anekdotenhaft, mal nachdenklich streift. Weil sie beim Erwähnen von Politikern wie François Hollande und Joachim Gauck den subjektiven Blick nicht scheut. Weil sie selbstironisch und komisch schreibt, aber auch ernst und empathisch. »Paris war anstrengend, aufreibend, von Touristen übervölkert, beengt, stickig und die Menschen immer unter Hochdruck, Geld zu verdienen, das Leben zu bestreiten, dazuzugehören.«

Generation ohne Gewissheiten: Rahmengeschichte ist eine Ostalgieparty, zu der eine ganze Riege an Freunden eintrifft, um mit Gummibärchen, Bananen und Champagner, Soljanka und »Wind of Change« den Mauerfall zu feiern. Unter den Gästen ist Pierre, der als IS-Geisel in Syrien von Frankreich freigekauft wurde, Coco, die das Attentat auf Charlie Hebdo miterlebt hat, Clément, der Fotograf aus der Provinz, der in der Hauptstadt reussieren will, François, der als Lehrer in der Banlieue arbeitet, die scharfsinnige Dunja, die Karriere macht, die junge Mutter Corinne mit Abenteuersehnsucht, die sich auf eine Affäre einlässt, Mehdi, der als Käsehändler mit dem alltäglichen Rassismus konfrontiert ist, die rastlose Julie, die bei Männern so gut ankommt und nach einem Selbstmordversuch in der Psychiatrie landet. So unterschiedlich die einzelnen Lebensumstände sind zwischen Prekariat und festem Job, Familiengründung und Single-Dasein, jeder von ihnen weiß, was er am 13. November 2015 gemacht hat, als bei den Anschlägen auf den Konzertsaal Bataclan und Cafés und Restaurants in der Nachbarschaft 130 Menschen zu Tode kamen. Dieses Blutbad, das Attentat auf Charlie Hebdo und die vielen weiteren Terrorakte in Nizza, Straßburg und anderen Orten Frankreichs markieren das Ende der Unbeschwertheit.

Das Projekt Freiheit: Romy Straßenburg zog mit 24 nach Paris, ein totaler Neustart mit verschiedenen Jobs am Anfang, Schreiben und Übersetzen, ein bisschen Radio. »Das Glück in dieser Stadt lässt lange auf sich warten, wenn du zu […] jenen Menschen gehörst, die aus freien Stücken und ohne Arbeitsvertrag Paris zu ihrer neuen Heimat machen.« Inzwischen berichtet die Journalistin seit mehr als zwölf Jahren aus Frankreich, sowohl als Autorin für Print- und Online-Medien als auch vor und hinter der Kamera als Regisseurin von Dokumentationen und Nachrichtenreporterin. Die Wahlpariserin verbrachte turbulente Jahre in Frankreich, eine Zeit politischer Umwälzungen und gesellschaftlicher Spannungen, des Terrors und der Armut und Arbeitslosigkeit in den Vororten. Ein Jahr lang war sie die Chefredakteurin der deutschen Ausgabe von Charlie Hebdo – nach dem Attentat auf die Redaktion. Die Arbeit lenkt von der Angst ab, aber »trotz des Erlebten weiterzumachen erfordert verdammt viel Kraft«. Und am Ende des Buchs ist die Party vorbei…

 

Romy Straßenburg, Adieu Liberté. Wie mein Frankreich verschwand, Ullstein Buchverlage, 236 Seiten, Berlin 2019

www.romy-strassenburg.com

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Ein Interview mit der Autorin ist auf dem Ullstein-Blog zu lesen: https://www.resonanzboden.com/u/romy-strassenburg-adieu-lieberte/