BRIGITTE BENKEMOUN: DAS ADRESSBUCH DER DORA MAAR

Ein faszinierendes Fundstück: Als Zufallstreffer, wie es ihn nur einmal im Leben gibt, entpuppt sich ein bei Ebay ersteigerter Fund für die Journalistin Brigitte Benkemoun. Der französischen Autorin war es eigentlich nur um die gebrauchte Lederhülle dabei gegangen, denn ihr Mann hatte seinen Taschenkalender verloren. Aus der Hülle war der auswechselbare Jahresplaner entfernt worden, doch im Innenfach steckte noch immmer ein kleines Adressheft, aus dem Jahr 1951, wie sich herausstellt. Benkemoun stockt der Atem, als sie beim Durchblättern erst Cocteau entdeckt, dann Chagall, Giacometti, Aragon, Breton, Sarraute … Auf 20 Seiten sind die großen Künstler der Nachriegszeit versammelt, handschriftlich notiert in verblasster bräunlicher Tinte – »ein privates Telefonbuch des Surrealismus und der modernen Kunst«. Wem mag es gehört haben?

Außergewöhnliche Detektivarbeit: Brigitte Benkemoun begibt sich auf Spurensuche, recherchiert in Biografien und Telefonbüchern, Memoiren und Tagebüchern, kontaktiert Zeitzeugen, spürt den Verkäufer auf und konsultiert einen Graphologen. Dank ihrer Hartnäckigkeit wird sie fündig: das Adressbuch gehörte Dora Maar. Mit Spannung verfolgt man als Leserin ihre Fortschritte bei den Nachforschungen, jedem einzelnen Eintrag geht Brigitte Benkemoun gewissenhaft nach und lässt uns dabei teilhaben an kleinen und großen Erfolgen und Fehlschlägen. Aus einem Mosaik biografischer Miniaturen entsteht so die Lebensgeschichte einer rätselhaften Künstlerin, die lange Zeit nur als »Muse, Modell und Geliebte« von Pablo Picasso bekannt war und deren Werk erst 2019 mit einer großen Retrospektive im Centre Pompidou in Paris und in der Tate Modern in London geehrt wurde.

Dora Maar: Die als Henriette Theodora Markovitch (1907–1997) geborene Tochter eines kroatischen Architekten und einer französischen Mutter wuchs in Paris und Buenos Aires auf. Nach dem Studium von Fotografie und Malerei richtete sie bald ein eigenes Atelier ein und arbeitete zunächst als Fotografin, als eine der ersten Frauen in diesem Metier, später als Malerin. Mit ihren fotografischen Arbeiten machte die junge Frau schnell Karriere und hinterließ nachhaltigen Eindruck bei ihren intellektuellen und künstlerischen Zeitgenossen. In den 1930er-Jahren war sie Teil der Gruppe von Surrealisten um Paul Éluard und André Breton. Ihre mehrjährige, zugleich produktive wie zerstörerische Beziehung zu dem Künstlerstar Picasso würde man heute als toxisch bezeichnen. Die zuvor so erfolgreiche und unabhängige Dora fotografiert ihn bei der Arbeit an seinem Meisterwerk »Guernica«, gibt letztlich aber das Fotografieren auf – und nachdem der Maler sie für seine nächste Geliebte fallen lässt, zieht sie sich auch aus der Pariser Kunstszene zurück.

Das Haus von Dora Maar in Ménerbes in Südfrankreich, das ihr Picasso überließ, kann im Rahmen einer Führung besichtigt werden (https://maisondoramaar.org).

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