BARBARA SICHTERMANN ET AL (HRSG): DAS VERORDNETE SCHWEIGEN

Spektakuläre Fälle von Zensur: In chronologisch geordneten Falldarstellungen unternimmt der Band eine Zeitreise durch die Jahrhunderte und beschränkt sich dabei nicht auf die Literatur (wie unlängst die sehenswerte Ausstellung »Verbotene Bücher« im Münchner Literaturhaus). Zensiert wurden und werden nicht nur Texte, sondern auch Bilder, Songs, Fotos und sogar wissenschaftliche Erkenntnisse. Zu den erfreulichen Aspekten des Buchs über »Das verordnete Schweigen« gehört die thematische Breite der Beiträge, von Goethe bis zu Klaus Mann, von der Fotoretusche bis zur Filmzensur, von den Scheiterhaufen, Verboten, Gerichtsprozessen der Vergangenheit bis zum Sensitivity Reading, der Cancel Culture und den Fake News der Gegenwart. Denn die Debatte darüber, wo die Grenzen der Meinungs- und Pressefreiheit verlaufen, ist virulenter denn je.

Lesenswert: Besonders anregend sind zwei ArtikeI, der Beitrag von Ulrike Brunotte über den »Salomeprozess« in London, der die Karriere von Maud Allan (1873–1956) als Tänzerin beendete. Dabei kam eine gefährliche Mischung aus Antisemitismus, Spionagevorwurf, Frauen- und Homosexualitätsfeindlichkeit zum Tragen. Fast ein Wissenschaftskrimi, leider mit schlechtem Ausgang, ist der Beitrag von Ingo Rose über den Mediziner Ignaz Philipp Semmelweis, der das bei Wöchnerinnen häufig auftretende Kindbettfieber auf mangelnde Hygiene zurückführte. Obwohl die Todeszahlen auf der Geburtsstation mit den männlichen Ärzten, die auch als Pathologen Leichen obduzierten, viel höher waren als auf der Hebammen-Station im selben Wiener Krankenhaus, weigerten sich die Kollegen, seine Arbeit anzuerkennen, mehr noch, die Gegner sorgten für seine Entlassung.

Familiäre Festschrift: Aus zwei Gründen habe ich das Buch gekauft und gelesen – wegen des Themas Zensur und wegen der Herausgeberin Barbara Sichtermann, die ich als Autorin frauenpolitscher Sachbücher sehr schätze. Der Eindruck, den der Band hinterlässt, bleibt ambivalent: Mitherausgeber sind ihr Sohn Simon Brückner und der ebenfalls der Familie lang verbundene Jens Johler, Bruder und Lebensgefährte sowie Edmund Jacoby als ihr zeitweiliger Verleger steuern ebenfalls Beiträge bei, sodass der Sammelband ein wenig wie eine familiäre Festschrift für Barbara Sichtermann wirkt. Das ist noch kein Grund zur Kritik, doch dann irritiert bei der Zusammenstellung, dass von den 25 Falldarstellungen nur vier Autorinnen Motive, Funktion und Auswirkungen von Zensur wie auch kreativen Widerstand dagegen beleuchten. Und eine fünfte als Expertin interviewt wird. Selbst der geschätzte Claus Leggewie wünscht sich ins Jahr 1955 zurück und nennt lauter prominente Männer als Grund dafür… In so einem Sammelband sind selten alle Beiträge von gleicher Qualität, so ist der Text zu Erich Kästner doch sehr wohlwollend geraten. Besonders fragwürdig erscheint, dass Altherrenbeiträge im Buch Platz finden, wie der Artikel zu Gustave Courbets Gemälde »Der Ursprung der Welt«, in dem die dargestellte behaarte weibliche Scham im Verfasser »Gefühle des Ekels« auslöst (wo zwei über Achtzigjährige dauernd glattrasierte Geschlechtsorgane und Intimrasuren zu sehen bekommen, möchte ich gar nicht erst wissen). Leider demonstriert gerade das »Streitgespräch« über Zensur während der Corona-Jahre, was heute die Debattenkultur so schwierig macht – der eine Gesprächspartner polemisiert nur; argumentativ begründete, mit Fakten unterfütterte Entgegnungen stoßen auf unbelehrbare, vorgefasste Meinung. Ist nicht zuhören, sich nicht damit beschäftigen, seine Vorurteile behalten wollen nicht auch eine Art von Zensur?

 

Barbara Sichtermann, Simon Brückner, Jens Johler (Hrsg.): Das verordnete Schweigen. Zensur von Fall zu Fall, Osburg Verlag, Hamburg 2024