PHILHARMONIE KÖLN: PARISIEN, PEIRANI, SEGAL, SISSOKO – LES ÉGARÉS
Gastbeitrag von Dr. Christoph Fischer. Ein hinreißender Auftritt in Köln: Manchmal ist es hilfreich, sich von einem Jazzabend vollkommen unvorbereitet überraschen zu lassen. Dass der französische Saxophonist Émile Parisien kein Unbekannter ist, geschenkt. Der 41 Jahre alte Jazz-Virtuose hat schon in vielen Gruppierungen geglänzt, doch seit er mit dem Akkordeonisten Vincent Peirani zusammentraf, sind der Jazz und das Leben um eine ausdrucksstarke Kombination reicher. Was die beiden an Improvisationen auf die Bühne bringen, sucht seinesgleichen. Parisien ist einer, der mit dem ganzen Körper hingebungsvoll spielt, einer, der im hohen Register geradezu jubilierend auftritt. Und dazu Peiranis Akkordeon, das einem gelegentlich noch viel gewaltiger, ausdrucksstärker vorkommt, als es ist. Aber das ist es nicht allein, was die Fans in der Kölner Philharmonie von den Sitzen reißt. Seit einem wunderschönen Abend bei dem Festival »Les Nuits de Fourvière« in Lyon haben sich mit diesen beiden der Cellist Vincent Segal, wie Parisien und Peirani Franzose, und Ballaké Sissoko zusammengetan. Sich gefunden, das beschreibt dieses Zusammentreffen sicher besser. Es war 2019, seither treten sie gemeinsam auf. Und es ist, als seien sich da vier Musiker begegnet, die sich Jahrzehnte gesucht haben.
Ein ungewöhnliches Quartett: »Les Égarés« heißt das Album, das die Vier 2023 präsentiert haben, »die Verirrten« oder »die, die sich verirrt haben«. Wobei der Titel mystischer klingt als er ist, weil die Vier schon genau wissen, was sie da musikalisch geschaffen haben. Sissoko kommt aus Mali, schon sein Vater Jeli Madi Sissoko sicherte der westafrikanischen Stegharfe Kora endgültig einen Platz im Jazz – ein bahnbrechender Musiker. Sohn Ballaké Sissoko hat den weltweiten Erfolg seines Vaters (»Ancient Strings«) neu interpretiert, gemeinsam mit Toumani Diabaté, ebenfalls aus Mali. Sissoko fand 2009 in Vincent Segal einen idealen Cellisten, beide sorgten für faszinierende Kammermusik. Der Akkordeonist Vincent Peirani wie der Saxofonist Émile Parisien spielen weltweit, in wechselnden Combos und Besetzungen, ihre Bandbreite reicht von Klassik über zeitgenössische Musik bis zum Jazz, beide komponieren eigene Stücke. Und seit über einem Jahrzehnt treten Parisien und Peirani als Duo auf. Ihr bahnbrechendes Album »Belle Epoque«, eine musikalische Verneigung vor dem legendären Sopransaxophonisten Sydney Bechet, war ein Welterfolg. Nun spielen diese beiden starken, musikalisch ausgezeichneten Duos seit 2019 als Quartett – was für eine glückliche Fügung für den Jazz.
Märchenhafte Einheit: Als in Köln Parisien den legendären »Orient Express« von Weather Report ankündigt, gibt es kein Halten mehr, alles, was das Stück beschreibt, wird auf der Bühne unsichtbar sichtbar. Für mich der Höhepunkt dieses einzigartigen Konzerts, selten erlebt man eine solche Expressivität. »Keiner von uns hat damals in Lyon etwas vorgeführt, die Musik kommuniziert, ohne dass man sie erzählen muss. Keiner von uns besaß die Wahrheit vorher, wir haben sie nur gemeinsam gefunden«, sagt Vincent Peirani.
Diesen Findungsprozess durch gegenseitiges Zuhören rekapituliert eindrucksvoll auch das neue Album »Les Égarés«. Da entsteht immer wieder etwas neu durch das freie Assoziieren, alle vier Musiker bringen sich überzeugt und kraftvoll ein, jeder ein Virtuose, deren Virtuosität sich in den genre-überschreitenden Kompositionen nochmals steigert. Was Segal auf dem Cello veranstaltet, wird zum Bass der Gruppierung, die 21 Saiten von Sissokos Kora brillieren wie das Sopransaxophon von Parisien und das Akkordeon von Peirani. Eine Zugabe nach 90 Minuten, professionell bis ins letzte Detail der Komposition. Die Leute erheben sich in Köln spontan von den Sitzen, dieser Auftritt darf für sich in Anspruch nehmen, einzigartig zu sein, märchenhaft vielleicht, ohne zu pathetisch zu werden: Vier Individualisten, zwei Duos, werden im Quartett zu einer Einheit. Chapeau.
Kölner Philharmonie: Konzert am 18. November 2023
Sissoko, Segal, Parisien, Peirani: Les Égarés (ACT 2023)