JENS SOENTGEN: STAUB

Feinstaub, Flusen und Wollmäuse: Dass sich noch die skurrilsten Aspekte als Themen für Dissertationen eignen, gilt für die Natur- wie für die Geisteswissenschaften. In der Germanistik beispielsweise scheint kein Goethe-Bezug zu geringfügig, um nicht in aller Ausführlichkeit beleuchtet zu werden. Auf Staubflusen muss man aber erstmal kommen! Ernsthaftes Forschungsinteresse an Feinstaub, Wollmäusen und mehr bringt Jens Soentgen auf, wobei er neben all den negativen Konnotationen auch das Positive im großen Universum der kleinen Partikel gewürdigt sehen möchte. Das Thema lässt den Chemiker und Philosophen nicht los, scheint es, denn nach der Doktorarbeit hat Staub ihn noch zu weiteren Büchern und Ausstellungen animiert. Worum geht es also wohl in seinem neuesten Buch? Staub! Zu erwähnen wäre auch: das letzte Kapitel heißt »Goethe und der Staub«.

Dunstglocken und Staubexplosionen: Giftiger Feinstaub belastet Stadtluft und Atemwege, Hausstaub verursacht Nießen und Hustenreiz, Blütenstaub kann Allergien auslösen, Asbeststaub schädigt die Lunge, Aerosole transportieren gefährliche Viren und Bakterien, noch kaum erforscht sind die gesundheitlichen Auswirkungen des Mikroplastiks in der Luft, das uns unsichtbar umgibt, Staubstürme haben schon zu katastrophalen Massenkarambolagen geführt. Die allergewaltigsten Staubschleudern sind die großen Industriestädte Asiens – gerade zeigt der Dokumentarfilm »Invisible Demons« von Regisseur Rahul Jain die Folgen des Klimawandels in Indien: Nur in wenigen Bildern ist die Luft über der Stadt halbwegs klar, meist verhängt dichter Dunst den Himmel, sodass die Sonne auch am hellen Tag nicht mehr durchdringt. Staub ist uns lästig und muss beseitigt werden, teils scheint er sogar gefährlich zu sein, so die allgemein verbreitete Perspektive. Jens Soentgen kann noch mehr aufbieten: Ein Weizenkorn entzündet sich nicht so leicht, Weizenstaub, wie er bei der Getreideverarbeitung anfällt, dagegen ist brennbar und kann mit Sauerstoff sogar ein explosionsfähiges Gemisch bilden. So manche Kornmühle sei durch Mehlstaubexplosionen schon in die Luft geflogen. Der Autor will aber auch die erfreulichen Aspekte von Staub präsentieren, also geht es im Buch auch um das Bestäuben von Blüten, die Rolle von Staub in der Kriminalistik, jodierte Meeresluft, Sternenstaub, flugfähige Pflanzensamen und Pilzsporen…

Alles über fast nichts: Das Buch löst den Anspruch des Untertitels dann aber doch nicht ein: Staub, so zeigt das Buch, ist unendlich vielfältig, doch auf den gerade mal 190 Seiten fand manches keinen Platz. Der Dokumentarfilm »Staub« (2007) von Hartmut Bitomsky wird nur nebenbei erwähnt, dem Regisseur verdankt Soentgen den Hinweis auf das »Kehrblechparadox«, ein literarisches Fundstück bei Raymond Queneau. Das »Internationale Staubarchiv« des Kölner Künstlers Wolfgang Stöcker wird nur mit einem Satz gestreift. Statt etwas genauer auf dieses Projekt einzugehen, werden viele Seiten auf ein imaginäres Wollmaus-Museum verschwendet. Wenn nicht schon weit früher, spätestens in diesem Kapitel fragt man sich, an wen sich dieses Buch eigentlich wendet, und schaut nach, ob irgendwo auf dem Umschlag »ab 12 Jahre« steht. Der Duktus erinnert an ein Jugendbuch, vielleicht orientiert der Autor sich aber eher an TV-Wissenschaftssendungen für die breite Öffentlichkeit. Zudem hatte ich nicht so viel weithin Bekanntes erwartet: Gleich zweifach erwähnt der Autor die giftigen Farbpigmente von Bleiweiß, auch die verheerenden Folgen eines Vulkanausbruchs im Jahr 1816 passen zwar zum Thema, sind aber gängiges Wissen. Oder andersrum: ich gehöre wohl nicht zur Zielgruppe. Was die Faszination von Staub ausmacht, sodass etwa Landart-Künstler wie Wolfgang Laib Millionen von Blütenpollen sammeln und zu Teppichen ausstreuen (im Museum of Modern Art in New York, bei früheren Documenta-Schauen) oder Jorge Otero-Pailos mit »Ethics of Dust« in London Staub konservieren, hätte ich interessant gefunden, und auch bei den gestreiften Themen vom Hausstaub bis zum Mikroplastik hatte ich mehr Denkanstöße und Verweise erwartet. Etwas komplexer scheint – zumindest der Leseprobe und dem Inhaltsverzeichnis nach zu urteilen – der von Jens Soentgen herausgegebene Sammelband zum selben Thema in der Reihe »Stoffgeschichten« des Oekom Verlags zu sein.

 

Jens Soentgen: Staub. Alles über fast nichts, dtv, München 2022

Jens Soentgen und Knut Voelzke (Hg.): Staub. Spiegel der Umwelt, Oekom, München 2005

Staub Soentgen Cover