MOBIL IN BADEN-WÜRTTEMBERG

Stau im Automobilland: 34,4 km sind es von meiner Haustür bis zum Eingang des Unternehmens in Stuttgart, für das ich manchmal arbeite. Mit dem Auto brauche ich dafür 1 Stunde, wenn ich gut durchkomme. Oder 1 Stunde und 15 Minuten. Aber nur, wenn ich antizyklisch nach dem Berufsverkehr fahre, also nach 9 Uhr und 19.30 Uhr. Die Fahrzeit ist für mich verlorene Lebenszeit, jeden Tag. Und Stress, weil immer mehr genervte Autopendler unterwegs sind, die meinen, der dichte Verkehr erlaube es ihnen, Regeln außer Kraft zu setzen. Rote Ampeln? Wen interessiert das, wenn er es eilig hat? Überholverbot? Nicht für jeden, schließlich hat man Termine! Liebend gerne würde ich mit dem ÖPNV unterwegs in die Landeshauptstadt sein. Wenn ich das Auto stehen lasse, sieht das so aus: Dreimal umsteigen, vom Bus auf die Regionalbahn, dann S-Bahn und wieder Bus. Fahrzeit – wenn ich alle Anschlüsse jeweils erreiche – 1 Stunde 45 Minuten. Plus 15 Minuten Fußmarsch zur und von der Bushaltestelle. Also mehr als zwei Stunden morgens und abends – für knapp 35 km! Nicht nur Baden-Württemberg stellt immer neue Pendlerrekorde auf, in ganz Deutschland steigt die Zahl der Menschen, die in die Ballungsräume pendeln und dafür täglich bis zu zwei Stunden Fahrzeit in Kauf nehmen. »Mehr als die Hälfte der in Stuttgart Beschäftigten wohnt außerhalb, von ihnen fahren fast zwei Drittel mit dem Auto zur Arbeit. Mit München liefert sich Stuttgart einen Kampf um den Titel „deutsche Stau-Hauptstadt“« schrieb die Süddeutsche Zeitung im Frühjahr (Josef Kelnberger und Roland Preuss, 4. April 2017).

Die Studie: Warum ich das erzähle? Nicht nur mich ärgert das »klare Jein« der Landesregierung zu einer nachhaltigen Verkehrspolitik. Jetzt gibt es endlich mal ein deutliches Wort dazu: Nachhaltige Mobilität kann nur »mit einem Rückgang der Pkw-Fahrleistung und des Pkw-Bestands gelingen« heißt es in der Studie »Mobiles Baden-Württemberg – Wege der Transformation zu einer Nachhaltigen Mobilität« (S. 244). Wie kann eine ökologisch, ökonomisch und sozial nachhaltige Mobilität in Baden-Württemberg in Zukunft aussehen? Der Bund für Umwelt und Naturschutz Baden-Württemberg (BUND) möchte mit der Studie, mit der vier Forschungseinrichtungen beauftragt wurden, eine breite öffentliche Diskussion über die heutige Verkehrspolitik anregen. Drei Szenarien skizziert die Studie, Variante 1 setzt auf autonomes Fahren, Variante 2 auf Sharing-Modelle und intelligente Vernetzung, Variante 3 auf ein »attraktives öffentliches Verkehrssystem«. Doch nur das dritte Szenario – »ein Wandel im Mobilitätsverhalten weg vom motorisierten Individualverkehr« verspreche, Nachhaltigkeitsziele zu erfüllen. Für eine nachhaltige Mobilität sei ein grundlegender Wandel notwendig: mehr Elektromobilität, Ausbau des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs sowie bessere Vernetzung, Sharingmodelle, Reduktion des Luftverkehrs und des Güterverkehrs auf der Straße, ergänzt um restriktive Maßnahmen wie Maut, höhere Parkgebühren und höhere Kraftstoffpreise, Abschaffung der Dieselsubvention und der Pendlerpauschale.

Weitblick für Baden-Württemberg: Es wird nicht unterschlagen, dass das für Städte und Ballungsräume realistischer ist als für ländliche Regionen. Beispiele aus dem urbanen Raum gibt es ja bereits – Bordeaux, Kopenhagen und andere –, die Vorbild sein könnten. Wie das auf dem Land aussehen würde, bleibt eher vage. »In Regionen mit geringer Bevölkerungsdichte wird die primäre Orientierung des ÖV auf Schüler aufgegeben, der „Jedermannverkehr“ sowie insbesondere der Freizeit- und Tourismusverkehr werden mit differenzierten Angeboten erfolgreich bedient. Langfristig ermöglichen autonome Fahrzeuge ein komfortables Mitfahrsystem, das den Bedarf eines eigenen Pkw reduziert und eine hohe Flexibilität garantiert.« (S. 248) Tatsächlich fordert die Studie eigentlich – auch mit dem Begriff »Nahmobilität« oder der Hoffnung auf »gute Versorgungsangebote in den Quartieren« (S. 241) – kurze Wege trotz der »langen Persistenz gebauter Strukturen«: »Die Verkehrsleistung geht durch die kürzeren Wege bis zum Jahr 2050 deutlich zurück.« De facto hieße das wieder Bauen wie im Mittelalter, also Durchmischung von Wohnen, Handel und Gewerbe statt der Trennung in Schlafstädte, Büro- und Einkaufsquartiere und Gewerbegebiete. Die Studie nennt das »integrierte Stadt- und Verkehrsplanung«, »verstärkte Nutzungsmischung« oder »Zusammenlegen von Wohnen und Arbeiten«.

Bürgerbusse: Die Frage »Mit welchen politischen Instrumenten und Rahmenbedingungen könnte die Realisierung einer nachhaltigen Mobilität gelingen?« beantwortet die Studie mit »Infrastrukturplanung«, »Pilotprojekte« und Mentalitätswandel durch Bildung. Ich habe noch einen weiteren Vorschlag. Gefordert wird vom Staat (und so vom Steuerzahler), den öffentlichen Nahverkehr auszubauen. Ja, das wäre ungeheuer wichtig! Aber damit es schneller geht: Warum werden nicht solche Unternehmen in die Pflicht genommen, die sich, um Kosten zu sparen, im preiswertesten Gewerbegebiet am Rand eines Dorfes ansiedeln, jottwede und weitab jeder Tram-, Bus- oder S-Bahnhaltestelle? Und so 300 Mitarbeiter oder mehr zwingen, täglich mit dem Auto zu kommen? Was würde es so ein Unternehmen kosten, einen kleinen E-Shuttle-Bus täglich mehrmals zur 3 km entfernten S-Bahn-Haltestelle zu schicken? Nicht die Welt! Es wird Zeit, dass große Unternehmen entsprechende Auflagen erhalten!

Download der Kurz- und der Langfassung beim Auftraggeber der Studie: Baden-Württemberg Stiftung

https://www.bwstiftung.de/bildung/programme/bildung-fuer-nachhaltige-entwicklung-buergerbildung/mobiles-bw/

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